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Die Leichtigkeit des Fliegens – Oder: Warum Engel so himmlisch-leicht trösten können

Als Kind betete ich jeden Abend vor dem Einschlafen – nicht kniend vor dem Bett, sondern liegend, denn unter meinem Bett wohnten Monster. Diese Hürde, mit viel Anlauf, überwunden zu haben, war schon Grund genug für allabendliche Dankbarkeit. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, das Nachtgebet ausfallen zu lassen, aber dann würde am nächsten Morgen etwas für mich Unvorstellbares passieren. Vielleicht nichts Schlimmes, aber konnte ich es darauf ankommen lassen?

Die Leichtigkeit des Fliegens – Oder: Warum Engel so himmlisch-leicht trösten können

Engel fliegen, weil sie sich selbst leichtnehmen

Da ich katholisch erzogen wurde (,wir alle sollten uns kein Bild von Gott machen, was wir Menschlein aber trotzdem tun), hatte „der liebe Gott“ weißes Haar, einen weißen Bart und den größten Heiligenschein. Er war der Erbauer aller Welten – alle Menschen, alle Pflanzen und alle Tiere hatte er auch erschaffen. Er war der Boss der Bosse! Warum sollte ausgerechnet „ER“ Zeit für mich haben? So dachte ich als kleines Kind und wandte mich, wie meine Oma, an die nächst niedrigere Instanz, an Maria, die Mutter Gottes. Aber auch sie wirkte auf mich sehr weit entfernt, außerdem lächelte sie fortwährend mild-gütig und sagte nichts, oder ich konnte sie nicht hören. Dann entdeckte ich die Engel, die sowieso schon auf meiner Kinderzimmertapete herumflogen – ihre Geduld, ihre Heiterkeit und ihren

Trost. Von da an hatte ich Gesprächspartner, vor denen ich keine Berührungsängste hatte, die mich beschützten, auch wenn ich Mist baute.

Engel fliegen, weil sie sich selbst leichtnehmen.

//Gilbert Keith Chesterton

Mehr Engel als auf meiner Tapete im Kinderzimmer sah ich an Omas Hand auf ihrem alten Friedhof. Sie waren aus Metall, ich lernte, dass es nicht golden, sondern gülden-glänzend heißt; oder die Engel waren mit türkis-schimmerndem Grünspan bedeckt, manche aus Marmor und Sandstein – und über alle Maßen groß. Einfach überirdisch. Solche Engel gab es nur auf den Gräbern wohlhabender Familien. Meine Oma hatte guten Geschmack und dank Opa das Geld, sich diesen leisten zu können. Sie sagte gerne: Gartenzwerge sind irgendwie Neuschwanstein für Arme. Wollte sie damit ausdrücken, dass König Ludwigs II. Schloss Neuschwanstein eine pompöse Ansammlung von königlichem Kitsch ist? Liegen Schönheit oder der Seelenwärme-Faktor nicht auch im Auge des Betrachters? Wer darf werten – und aus welchem Sichtwinkel?

Unter meinen diversen Studier-An- und Austestungen war auch das Fach Architektur. „Form follows function“ – „die Form folgt der Funktion“, ist der bis heute gültige Gestaltungsleitsatz. Er besagt, dass die Form – die Gestaltung von Dingen – sich aus ihrer Funktion, ihrem Nutzzweck, ableiten soll. Der Begriff ist Teil eines berühmten Zitats des amerikanischen Architekten Louis Henry Sullivan und die wichtigste Design-Formel der Bauhaus-Ära, die unser modernes Stilbild begründete. Die Goldrandtasse und der Teddybär dürfen trotzdem weiterleben: das ist wahre Design-Demokratie. In einer Vorlesung über die Definition des sogenannten guten Geschmacks blieb mir ein Satz über Engel im Kopf: Wenn jemand einen Engel stromlinienförmig designen würde, hätte er oder sie das Wesen dieser Erscheinungen nicht begriffen. Engel müssen pausbäckig-kindlich, barock-rundlich sein oder grazil himmelaufstrebend elegant und ungeheuer schimmernd und funkelnd – und vor allem eines: 

Engel müssen sichtbar-unsichtbar sein

In der christlichen Theologie stehen die doppelflügligen Cherubim an zweiter Stelle hinter den mächtigeren, mehrflügligen Seraphim. Seraphim haben drei Paar Flügel: eines über ihrem Haupt, ein Paar am Rücken und eines vor ihrem Körper. Mein Lieblingsengel ist Gabriel, er ist der Überbringer froher Botschaften, ein Erzengel, dem bisweilen 140 Flügelpaare zugeschrieben werden. Nach mehreren mittelalterlichen Darstellungen ist Gabriel ein weiblicher Erzengel, somit die einzige Engelin. Die Frage ihres Geschlechts hat viele Kontroversen ausgelöst, oft wurde sie als männlich beschrieben. Vielleicht war es einfach der erste Gender-Engel. (Quelle: Lexikon der religiösen Bräuche und Gegenstände, Charles Panati) 

Deutsche Ingenieure haben in den 1990er Jahren errechnet, dass Hummeln nicht fliegen können, weil sie zu voluminös, zu luftwiderstandsmäßig pelzig seien und ihr Flügelpaar für das alles viel zu klein sei. Sie fliegen aber trotzdem, die Hummeln. Meine Theorie ist, dass ihre Schutzengel direkt unter ihnen fliegen und sie ein winziges bisschen unterstützen. Wir müssen uns also keineswegs Gedanken machen über engelische ein, zwei oder gar 140 Flügelpaare.

Vielleicht könnten wir sowieso und überhaupt alle fliegen, wenn wir uns die Erdenschwere einfach wegdenken würden oder wie „Per Anhalter durch die Galaxis“-Autor Douglas Adams sagt: Das Fliegen ist eine Kunst oder vielmehr ein Trick. Der Trick besteht darin, dass man sich auf einen Tisch stellt und lernt, sich hinunter auf den Boden zu schmeißen – aber eben daneben. Such‘ dir einen schönen Tag aus und probier’s.

Wir sind Engel mit nur einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.

//Luciano de Crescenzo

Haben wir feste Jenseitsvorstellungen oder eher Jenseits-Vermutungen, Jenseits-Hoffnungen? Dann wollen wir doch wenigstens ein Schutzwesen, eines, das uns nicht straft für all das, was wir nicht gesagt, nicht getan oder, noch schlimmer, was wir getan und gesagt haben – und nun nicht mehr mit dem nicht mehr Lebenden klären und um Verzeihung bitten können. Schmerz? Schuld? Sehnsucht? Manchmal tauchen sie erst nach Monaten auf und fordern Lösung, Er-Lösung. Dann kann uns ein Engel helfen, der unsere Ängste übersetzt und den wir dem geliebten Verstorbenen dalassen zum Geleit. Das zu tun tut uns gut.

Kleine Engelsammlung als Geleit für Verstorbene

 

Auch Engel brauchen eine Pause

 

Als Nachwort zum Nachtgebet: Ein einziges Mal habe ich mich doch an den „Lieben Gott“ direkt gewandt, das war während der Kuba-Krise 1962. Wir Nachkriegskinder spürten die unausgesprochene Angst der Erwachsenen, und wir ahnten, dass etwas Furchtbares bevorstand: der Dritter Weltkrieg. Damals betete ich zum Boss der Bosse, und, wie wir alle wissen, ist – Gott sei Dank – der Dritte Weltkrieg damals nicht ausgebrochen.

Engel sind göttliche Boten.

Es gibt sie in der gesamten Menschheitsgeschichte und weltweit in allen Religionen. Sie haben uns gut begleitet, solange wir zurückdenken können. Im Islam erscheint der Erzengel Michael in einem veränderten Erscheinungsbild, wunderschön, wie ich meine: Er wird mit grün-schimmernden Schwingen aus massivem Smaragd dargestellt, die mit einem pfirsichartigen Pelz aus Safranhaaren bedeckt sind, deren jedes angeblich „eine Million Gesichter und Zungen“ besitzt. Oft werden Engel, bis auf meinen Liebling Gabriel, als geschlechtslose Wesen verstanden, obwohl zumindest einige von ihnen als Jünglinge oder junge Männer beschrieben werden, wie jene vom leeren Grab Jesu oder auch die in Sodom erscheinenden Engel des Alten Testaments. Der Auffassung von einer Sexualität der Engel und der auferstandenen Menschen, wie sie die Sadduzäer vermuteten, widerspricht Jesus im Markus-Evangelium: „Wenn nämlich die Menschen von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch lassen sie sich heiraten, sondern sind wie Engel im Himmel.“

Gisela Zimmermann/Filmemacherin und Trauerbegleiterin

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