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Der andere Blick auf meine Trauer

Jugendliche, die um einen nahestehenden Menschen trauern, können über das Medium Fotografie eine neue Perspektive zur Bewältigung ihrer Trauer bekommen.

Der andere Blick auf meine Trauer

Foto: Amelie K. „Dein Blick“

Wenn sie die Schwimmbrille von ihrem tödlich verunglückten Bruder aufsetzt, – schaut sie durch seine Augen. Die beiden hat so vieles verbunden, sie haben gemeinsam Triathlon gemacht. Amelie K. will mit ihrem Foto „Dein Blick“ seine Perspektive einnehmen, an seine positive Sicht der Dinge erinnern, an ihren Bruder, der tot ist. „In manchen Situationen setze ich mir sozusagen seine Brille auf und frage mich, wie er diese Situation jetzt beurteilen würde. Es ist, als würde er mir einen Ratschlag geben.“
In der Trauer ist alles erlaubt, was gut tut. Amelie hat gemeinsam mit anderen Jugendlichen, die um ihnen nahestehende Menschen trauern, am Foto-Workshop „Perspektiven“ teilgenommen. Dazu gab es eine begleitende Ausstellung der Fotos und ihrer persönlichen Erkenntnisse auf diesem besonderen Trauerweg.

Initiiert werden diese Fotoworkshops von Michael Friedmann, Mitarbeiter im Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes/Landkreis Ludwigsburg in kooperierender Begleitung des Fotografen Julian Meinhardt.

In der Trauer nicht allein gelassen

Seine eigene Mitte finden. Es ist doch wie das Stehen auf einem Brett, dass auf einer Rolle liegt, ein Balance-Akt. Kein stabiler Standpunkt. Nichts, was für immer steht, es muss gefunden werden, fortwährend neu. Es ist ein immerwährender Prozess: sich dem Tod zuwenden müssen und dann wieder dem Leben, sagt Michael Friedmann, der kongeniale Seelsorger und Trauerbegleiter. Er liebt die Fotografie, kennt sich damit aus und er-findet andere neue Wege, Trauer auszudrücken. Über das Medium Fotografie vermitteln er und sein Team Austausch innerhalb der Gruppe. Das Gemeinsame, die Augenhöhe im Schmerz, hilft den Jugendlichen in ihrem Trauerprozess.

Foto: Samuel S. „Auf dem Weg“

Wenn der feste Grund ins Wanken geraten ist

Trauer zieht dir den Boden unter den Füssen weg. Wenn du jung bist, weißt du noch nicht einzuordnen, was da gerade mit dir geschieht. Die Erwachsenen, die dir Sicherheit geben könnten, sind in ihrer eigenen Trauer. Eingeschlossen. Michael Friedmann strahlt vollkommene Sicherheit aus. Er spricht ruhig und seine Sätze sind ohne Füllworte. Ehrlich. Ich interviewe ihn und erzähle dabei mehr von mir. Es tut gut. Der Tod von einem nahen geliebten Menschen erinnert an die eigene Endlichkeit, schärft den Fokus auf das, was wichtig ist. Der Tod macht manchmal abrupt erwachsen. Das muss du erstmal aushalten.

Junge Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob jemand nur aus der Theorie heraus spricht oder den „wilden Schmerz“ selbst erfahren hat. Michael Friedmann und Julian Meinhard haben solche Verlust-Erfahrungen erlebt und wissen, wie es sich anfühlt.

Fotos sind Licht-Bilder – Bilder aus Licht

Gute Fotos entstehen durch gutes Hinschauen. Zuerst im eigenen Kopf, im inneren Universum. Danach kommt die Analyse, das Fokussierung auf das Eigentliche. Das Weglassen, das Rausfiltern des Überflüssigen – das ist der schwerste Schritt.
Das erinnert mich an die Basics vieler Trauer-Modelle, die tatsächlich auch als Lebens-Modelle dienen könnten. Die Trauer als die große Lehrmeisterin: „Trauer ist die Lösung – und nicht das Problem,“ wie Chris Paul, so richtig bemerkt.

Viele der Fotos, die im Workshop entstehen, sind unkonkret, abstrakt. Jedoch immer drücken sie für den oder die genau das aus, was wehtut und schmerzt. Wunde und Heilung.
Sprache ist für viele Trauernde nicht der erste Weg, ihren Schmerz auszudrücken, weil sie keine Worte finden, weil das Nicht-sprechen-müssen auch Schutz bedeuten kann. Die Fotografie ist eine Übersetzerin. Eine Kunstform. Der Freiraum, den die Jugendlichen schon kennen, durch die sozialen Medien. Nun lernen sie weitere Blickformen kennen, um das, was sie innerlich bewegt, ausdrücken zu können.

Perspektive, Schärfe, Unschärfe, Nähe, Distanz; wir vermitteln die Technik und sind Wegbereiter, Wegbegleiter. Das Zusammenspiel von uns allen im Team macht, dass die Ergebnisse so sind, wie sie sind. Sie tun gut und es wird weitere Workshops geben, sagt Michael Friedmann und strahlt Gewissheit aus.

Die Jugendlichen finden ihre eigenen Bilder, eigene Worte.

Es ist nicht wichtig, dass das Bild zu dem Verstorbenen passt oder vermeintlichen Erwartungen entspricht. Es braucht diesen Prozess innerhalb der Gruppe, um das eigene In-sich-selbst-Trost-Bild zu finden.
Wenn die Jugendlichen ihre Bilder der Gruppe zeigen, ist es meistens die Reflexion der Anderen: Die richtigen Worte zum Bild, die Titeleien kommen von den anderen. Sie spiegeln ihre Assoziationen, weil sie im gleichen Leid verbunden sind. Die Gruppe findet ihren gemeinsamen Weg durch die Trauer und den Weg zu den Erinnerungen. Die Erinnerungen trösten und bleiben. Das macht stärker. Für egal was kommt.

Foto: David H. „Die Hast des Lebens“

Verbunden bleiben als Prozess

Was heißt Perspektive? Was will ich anschauen und wie? Wo tuts weh? Will ich da überhaupt hinschauen? Warum Schmerz aushalten? Worauf will ich fokussieren?
Lauter W-Fragen. Auf W-Fragen kann nie nur mit Ja oder Nein geantwortet werden – aber vielleicht mit dem eigenen Lichtbild.

Foto: Leonie H. „Verbunden“

Ein zweiter Workshop hat schon stattgefunden; weitere sind in Planung. Ein Workshop dauert vier Tage. Die Fotos entstehen primär für die Macher*innen. Wir, sagt Friedmann, nehmen keinerlei Einfluss auf eine einheitliche Gestaltung oder Format. Der „rote Faden“ ist die gemeinsame Trauer. Immer entscheiden die Jugendlichen, ob ein Bild in die Ausstellung kommt, öffentlich gezeigt wird – und ein anderes ausschließlich ihnen selbst, der Familie vorbehalten bleibt. Diese Bilder drücken auch etwas sehr intimes, zutiefst Persönliches aus.

Autorin: Gisela Zimmermann/Filmemacherin und Trauerbegleiterin
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