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Wiedererkennen und Wiederbegegnen:

„Wenn ein Mensch stirbt – stirbt eine Bibliothek.“ Friedhöfe erzählen Lebensgeschichten.

Wiedererkennen und Wiederbegegnen:

Anonymität und Individualität im Grabbrauchtum

Nicht weit vom Strand von Santa Monica liegt im Stadtteil Westwood von Los Angeles, rings umgeben von Hochhäusern und vielbefahrenen Straßen, als eine beschauliche Oase der Stille der Pierce Brothers Westwood Village Memorial Park and Mortuary. Hollywood ist nur wenige Kilometer entfernt, und so findet man dort die letzte Ruhestätte nicht weniger bekannter Größen aus dem Film- und Showgeschäft. Ebenfalls ganz in der Nähe liegt die Universität von Kalifor­nien, und so beschloss ich, hier wie schon in anderen Städten die freie Zeit auf einer Fachtagung für einen Friedhof-Besuch zu nutzen.

Sollte ich den Friedhof mit nur drei Adjektiven beschreiben, würde ich sagen: ruhig, gepflegt und weitläufig. Immer wieder spenden hohe Bäume den Besuchern Schatten, und die einzelnen Grablegen sind zumeist durch breite Wege, mitunter ausgedehnte Rasenflächen und akkurat gestutzte Hecken von­ein­ander abgegrenzt. Der Friedhof wurde 1905 als Sunset Cemetery gegründet. Die weitaus meis­ten Gräber stammen daher aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und so fehlen hier die mitunter gewaltigen Unterschiede in den äußeren Abmes­sungen und im materiellen Auf­wand der einzelnen Grabdenkmäler, die manche historisch gewachsenen euro­päi­schen Friedhöfe in europäischen Großstädten kenn­zeichnen. Deutlich weniger ausgeprägt als auf vielen älteren Begräbnis­plät­zen erschien mir auch die Ver­brei­tung christlicher Symbole, wie sie in der Errichtung steinerner Kreu­ze, aber auch in der Verwendung von Bibelzitaten oder der Darstellung von Engeln und Ölzweigen als Ausdruck der christ­lichen Erlösungs- und Jenseits­hoffnung zum Ausdruck kommt.

Unverkennbar war indessen der hohe Wert, den man durchweg der indi­vi­duellen Kennzeichnung der einzelnen Grabstellen beigelegt hatte – wenn auch in höchst unterschiedlicher Weise. „H. L.“ lautete in kaum überbietbarer Kürze die Inschrift auf einer kleinen quadratischen Steinplatte, welche die Iden­tität der hier beigesetzten Person nur dem bereits kundigen Besucher offen­barte. Sehr viel häufiger war dagegen die Kennzeichnung mit vollem Namen, Geburts- und Sterbejahr: „TRUMAN CAPOTE 1924–1984“ und „MARILYN MONROE 1926–1962“ lauteten die Inschriften auf den dazugehörigen Urnen­gräbern. Dass man in dem zuletzt genannten Fall den Künstlernamen statt des eigentli­chen Namens der Verstorbenen verwendet hatte, zeigt wohl nicht zuletzt, in welchem Umfang die reale Person durch die von ihr verkörperte Lein­wand­per­sön­lichkeit auf Dauer in den Hintergrund gedrängt worden war. Relativ selten fühl­ten sich Verstor­be­ne oder Hinterbliebene dazu gedrängt, den Status, die bleibende Be­deu­­­tung oder irgendwelche herausragen­den Leistungen der hier beigesetzten Berühmt­hei­ten zu dokumentieren – viel­leicht vertraute man darauf, dass sie ohne­hin allseits bekannt seien. Den wohl originell­sten, ebenso augen­zwin­kern­den wie hinter­grün­digen Hinweis auf die Scheinwelt des Kinos zeigte der gleich einer Kino­leinwand rechteckige Grabstein des Komö­dian­ten Jack Lemmon, auf dem ganz lapidar nach der Art eines Spielfilmvor­spanns zu lesen stand:

„Ja, wir wissen tatsächlich nicht, wo er jetzt drin ist“, lachte die Ehefrau eines ame­rikanischen Kollegen, der ich davon erzählte. Vergleicht man die hier beschriebenen Gräber mit solchen des acht­zehn­ten oder neunzehnten Jahr­hun­derts, etwa auf dem Pariser Cimetière du Père Lachaise oder dem Alten Fried­hof in Bonn, erahnt man die beträchtliche Ent­wick­lung, die der Umgang mit Tod und Trauer in nur zweihundert Jahren ge­nom­men hat. Die Kennzeichnung der Gräber mit den Namen der Verstor­be­nen folgt nach wie vor einem lange etablierten christlichen Brauch, doch der Gedan­ke eines Weiterlebens oder Wiedersehens nach dem Tod bleibt heute oft unaus­gesprochen oder im Ungefähren. Wie es die Inschrift auf dem Grabstein des Musikers Ray Conniff mit den bekannten Anfangs­worten eines seiner erfolg­reich­sten Lie­der ausdrückte: Somewhere, my love … Die Vor­stel­lung eines Besuchs am Grab als Ausdruck der Sorge um das Seelenheil der Verstor­be­nen schien hier überlagert oder ersetzt durch die Idee eines Besuchs als Gelegenheit zum zwanglosen, stillen Dialog, der nicht zuletzt der Selbstreflexion dient. Oder wie es die In­schrift auf einer Marmorbank formulierte, die wohl das dort beige­setz­te Ehepaar gestiftet hatte:

(Sit down and have a chat with Sandra & Lew).

Individuelle Kennzeichnung hat in unserem hauptsächlich vom Chris­ten­tum geprägten Bestattungswesen eine lange Tradition, und eine anonyme Be­stattung blieb in der bürgerlichen Gesellschaft oft den Außenseitern vorbehalten. „Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet“, heißt es noch am Ende von Goethes Werther – ein dezenter Hinweis des Autors auf den weithin geübten kirchlichen Brauch, ‚Selbstmördern‘ ein christliches Begräbnis zu verweigern. Lange Zeit sorgten auch staatliche Gesetze auf diesem Gebiet für eine gewisse Einheitlichkeit, die oft nicht weiter hinterfragt wurde. „Catherine hatte einmal gesagt, dass man ihre Asche von einem Berg in den Wind streuen sollte“, bemerkt der Off-Erzähler ganz am Ende des Films Jules und Jim, um dann mit unterschwelligem Bedauern hinzuzufügen, „aber das war verboten.“ Erst in der jüngsten Vergangenheit findet man mit dem Ruhe-, Begräbnis- oder Bestattungswald eine Alternative zum traditionellen Friedhof.  Die Gründe für ihr Auftreten und ihre Akzeptanz können im Einzelfall zweifellos sehr unterschiedlich sein. Eine gewichtige Rolle spielt aber wohl immer wie­der die fortschreitende Säkularisierung und der Rückgang kirchlicher Bindungen, sowie die Attraktivität der Vorstellung eines ewigen Kreislaufs und der Wunsch nach Naturverbundenheit, in einem Zeitalter ver­brei­teter Zivilisa­tionskritik. Mitunter mag wohl auch der Wunsch mitspielen, die Hinterbliebenen von der Pflicht der Grabpflege zu befreien, ihnen also ‚nicht zur Last zu fallen‘ – was dann freilich auch ein Aufsuchen des Grabs aus anderen Gründen auf Dauer unmöglich macht.

An dieser Stelle lohnt es sich vielleicht anzumerken, dass eine Span­nung zwischen Individualität und Anonymität auch in der außerchristlichen Reli­gionsgeschichte weit verbreitet ist. „Den Scheiterhaufen überladen sie nicht mit Tüchern und Duftstoffen“, schrieb der römische Historiker Tacitus im ers­ten Jahrhundert n. Chr. über die Germanen, „doch jedem werden seine Waffen und manchen auch das Pferd ins Feuer mitgegeben.“ Noch zur Zeit Karls des Großen galt die Leichenverbrennung als typisch heidnische Sitte, so dass man sie den eben erst unterworfenen und zum Christentum bekehrten Sachsen unter Andro­hung der Todesstrafe verbot. Auch Grabbeigaben galten als typisch heid­nisch, weshalb sie nach der Christia­ni­sie­rung schon bald fast vollständig verschwan­den. Ganz anders als bei den von Tacitus beschriebenen Germanen war dagegen der Umgang mit den Toten in weiten Teilen der Jungsteinzeit und Bronzezeit. Noch heute weithin sichtbar ist dies bei den vielen Grabhügeln, die man zu jener Zeit rings um die Kultstätte Stonehenge in Südwestengland anlegte. Sie sind zwar durch ihre Lage und Monumentalität klar von ihrer Umgebung abgegrenzt, doch tritt der Einzelne hier fast stets hinter das Kollektiv zurück und bleibt – mit wenigen Ausnahmen – vollständig anonym.

Was folgt aus solchen religionsgeschicht­li­chen Vergleichen, die sich be­lie­big vermehren und verfeinern ließen? Auf der einen Seite ist zu betonen, dass sich der Mensch in dem hier beschrie­benen Zeitraum nicht mehr wesentlich verändert hat, dass also seine geistigen Fähigkeiten und seine Wahrnehmung der Umwelt von der Jungsteinzeit bis zur Gegenwart gleichgeblieben sind. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, dass der Umgang mit Tod und Bestattung innerhalb dieses Zeitraums eine enorme Bandbreite aufweist: Was in einer frü­he­ren Epoche selbst­ver­ständ­lich erschien, kann auf uns Heutige höchst befremd­lich und mitunter gar bizarr wirken – wie man dies ja auch aus den Beschreibun­gen von Bestattungs­sitten indigener Kulturen durch neuzeitliche Ethnologen kennt. Fragt man nach den Konstanten jenseits aller kulturellen Prägungen, ist vielleicht als erstes auf die weite Verbreitung des Gedankens einer Gemein­schaft der Lebenden und der Toten hinzuweisen: Die Lebenden bestimmen ihre eigene Identität immer auch durch die Erinnerung an die Verstorbenen. Nicht von ungefähr weisen daher Gräber­fel­der, Begräbnisplätze und Friedhöfe schon in der Vor- und Frühgeschichte eine beträchtliche, manchmal Jahrhunderte wäh­ren­de Kontinuität auf. Dieser Umstand verweist zugleich auf die weite Verbrei­tung einer weiteren Konstante:

Mitunter braucht sie auch Handlungen, die je nach der Stärke kollektiver Bindungen den Charakter von Ritualen annehmen können. Die heute zugelassene Vielfalt ermöglicht es in jedem Einzelfall, aus ganz unter­schied­li­chen Möglichkeiten eine Auswahl zu tref­fen. Individuelle Lebensumstände sowie unterschiedliche religiöse und kul­tu­relle Prägungen können darüber entscheiden, welchen Ausdruck der Gedanke einer Verbundenheit der Lebenden mit den Toten annimmt.

Prof. Dr. Bernhard Maier studierte Vergleichende ReligionswissenschaftSprachwissenschaftKeltische Philologie und Semitistik. 1998 habilitierte er sich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zum Thema: Die Religion der Kelten: Götter, Mythen, Weltbild. Er ist Autor vieler Publikationen.

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