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Dieser Text erschien zuerst im Bundes-Hospiz-Anzeiger 5/2024 „Trauer“, www.hospiz-verlag.de
Vier Autobahnstunden fuhr ich ins Ungewisse. Als ich im mir bis dahin fremden Hospiz ankam und vor dem angegebenen Zimmer stand, hörte ich, wie drinnen ein Choral gesungen wurde. Ich glaubte, ich sei zu spät gekommen, doch ich hatte nur das letzte Abendmahl verpasst und durfte sein Sterben im engsten Kreis begleiten. Ob er das noch wahrgenommen hat? Ich weiß es nicht. Schon in den letzten vier Jahren hatte sich eine manchmal schwierige Vater-Sohn-Beziehung durch räumliche Distanz, Krankheit und den zunehmenden Einsatz von Opioiden zu einem langen, sanften und liebevollen Abschied gewandelt. Jahre nach meinem Wegzug war nun auch er langsam, aber endgültig verschwunden.
Eine Freundin von mir starb bei einem Autounfall. Plötzlich hier die Nachricht von ihrem Tod, die ich in der Ferne erhielt. Längst schon hatten wir keinen Kontakt mehr, überraschend heftig traf mich dennoch der Verlust. Wir verschieben oft Jahr um Jahr mit dem Gedanken, sich mal wieder zu melden, meinen, wir könnten ja jederzeit anrufen. Doch darauf sollten wir uns nicht verlassen.
Was macht das mit uns, wenn wir eine Beziehung zu Menschen, die uns wichtig sind, nicht mehr weiterführen können? Wenn wir einander nicht mehr sagen können, was wir noch sagen wollten? Worin besteht eigentlich eine Beziehung?Beziehungen leben in der Kommunikation – oft in Worten, in Gesten, in Harmonie wie im Streit. Manchmal auch nur in Gedanken, in der Sicherheit, der andere sei ja da, erreichbar, bei Bedarf verfügbar, am Leben.
Beziehung nach dem Tod
Der Tod beendet unsere Beziehungen nicht. Sie bleiben in uns. Wir sind doch gewohnt, uns auszutauschen. Das sieht bei jedem Trauerfall anders aus. Bei manchen spüren wir das mehr und bei anderen weniger, je nachdem wie die Beziehung eben war – und wie gut man sich verabschieden konnte.
Mit dem Verlust suchen wir die Nähe – beispielsweise, wenn Dinge ungesagt blieben oder Träume nicht gemeinsam gelebt werden konnten. Der Wunsch bleibt, Dinge noch zu hören, sie auszusprechen, gemeinsam zu erleben, dem anderen etwas zu zeigen oder Überraschungen zu bereiten. Zuweilen verzweifelt versuchen wir dann, diese Nähe aufrecht zu erhalten, sie weiter zu leben. Rituale helfen der Psyche.
Den Verlust zu verarbeiten, das braucht oft diese Weiterführung der Beziehung. Die Nähe zum Verstorbenen in Gesten weiterführen, am Ort der letzten Ruhe in Gedanken weiterreden zu können, ermöglicht oft erst den Abschied.
Mir tat es gut, meinen Vater im Tod und danach versorgen zu dürfen, auch, seinen Sarg gemeinsam mit unseren Freunden tragen zu können. Ihm noch vor der Schaufel Erde heimlich eins seiner Lieblingsbonbons ins Grab zu werfen. Es hilft, einen Ort zu haben, an dem wir nochmal nahe sein, innehalten können. Hier können wir in Gedanken bei ihm sein, uns mit ihm unterhalten, ihm einen Gruß mitbringen. In der Wohnung meiner Mutter ist er präsent, aber dort soll das Leben unbeschwert weitergehen. Der Ort, an dem wir ihn beigesetzt haben hingegen ist ein geschützter Raum, den wir jederzeit aufsuchen können, um bei ihm zu sein. Das durften und dürfen wir gestalten, wie es ihm gefallen hätte – und wie es uns gut tut.
Manchmal sehen wir, dass jemand bei ihm war, oder treffen andere aus dem Ort, die ihre eigenen Angehörigen besuchen. Auch auf Friedhöfen lebt die Stadt, äußert sich Gemeinschaft. Manchmal entstehen hier neue Nachbarschaften, neue soziale Strukturen von Menschen in ähnlicher Situation, die einander verstehen, weil ihnen die Trauer nicht fremd ist.
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Ich habe Urnenbeisetzungen in Wäldern erlebt – anonym an Bäumen mit grauen Plastikplaketten. Nicht mal die Bäume würde ich heute wiederfinden. Der Wald seltsam unpersönlich. Dort individuell zu gestalten, Grüße abzulegen ist verboten. So eine Beziehung weiterzuführen, bis man seine Trauer verarbeitet hat, sie ablegen konnte, fällt vielen schwer. Wie bei vielen pflegefreien Gemeinschaftsgräbern auf Friedhöfen beobachten wir auch im Beisetzungswald, dass viele Menschen entgegen der dort herrschenden Verbote ihrer Trauer Ausdruck verleihen: Sie führen die Kommunikation nahe bei den Verstorbenen weiter, legen Grüße ab: Briefe, Blumen, Kerzen, Gebasteltes, Erinnerungsstücke. Auch dort wird solches, weil nicht erlaubt, abgeräumt und entsorgt.
Doch wo diese für die Trauerverarbeitung wichtigen Rituale verboten sind, fehlt die wichtigste Funktion des Grabes. Grabformen, an denen Trauernde ihrer Sehnsucht keinen Ausdruck geben dürfen, bieten wenig Hilfe. Der heilsame Trauerprozess wird behindert, das Verbot der psychologisch wichtigen Rituale führt zu Konflikten. Im schlimmsten Fall verstetigt sich die Trauer.
Rechtzeitige Beratung
Kann man schon vor der Verlusterfahrung oder angesichts der Todesnachricht bei der Organisation der letzten Dinge einschätzen, ob man damit später zurechtkommt? Nicht immer. Bräuchte man hier eine Beratung, die einem bewusst macht, welche Einschränkungen oder Verbote mit bestimmten Grabformen verbunden sind? Gewiss.
Könnte es in der Palliativ- und Hospizbewegung eine wertvolle Aufgabe sein, Sterbenden und Angehörigen hier Informationen und die Sicherheit zu geben, dass ein guter Ort gewählt ist – auch für jene, die mit dem Tod der anderen weiterleben müssen? Das Büchlein „Weiterreden, weiterleben“ (Bezug: raum-fuer-trauer.de, 48 Seiten, 9,80 Euro zzgl. Versand) kann Ausdruck solcher Beratung und Fürsorge sein.
„Feld der Lebenden“ – Friedhof als „Caring Infrastructure“
Die Initiative „Raum für Trauer“ hat trauerpsychologische Erkenntnisse gesammelt, die bereits zu entsprechenden Planungen auf Friedhöfen in Hamburg, Baden-Württemberg und Bayern führen. Unter anderem sollen auch neue, pflegefreie Gemeinschaftsgrabformen dort zu individuellen Ritualen Hinterbliebener einladen. Auf dem kommunalen Friedhof „Stiegelwiesen“ in Süßen sind solche Bereiche längst realisiert, sie konnten aufgrund der steigenden Nachfrage bereits erweitert werden.
© Initiative Raum für Trauer
Als Impulsort für Friedhofsverwalter und -planer hat die Initiative „Raum für Trauer“ im 2023 den Campus VIVORUM in Süßen eröffnet, der seither in der Fachwelt großen Zuspruch erfährt. Schon im ersten Jahr fanden über 60 Gruppenführungen statt für Bürgermeister, Friedhofsverwalter und fachliche Gremien aus Städte- und Gemeindetagen sowie Landeskirchen. Sie finden hier Anregungen für eine Weiterentwicklung ihrer Friedhöfe – zu fürsorglichen sozialen Orten, die sich stärker am Nutzen für die Hinterbliebenen orientieren und so auch zu wertvollen Begegnungsräumen für die Gemeinschaft werden.
Weiterreden, weiterleben
Das Büchlein „Weiterreden, weiterleben – wie ein Grab als Trauerort dabei helfen kann“ will dazu anregen, sich rechtzeitig mit der Frage auseinanderzusetzen: Für wen ist es wichtig, wie das Grab meines liebsten Angehörigen eines Tages beschaffen ist?
Günter Czasny (Idee), Tobias Blaurock (Text). Mit einem Vorwort von Zukunftsforscher Matthias Horx. Illustrationen nach Skizzen von Günter Czasny: Oliver Zick
9,80 Euro zzgl. Versand. Bezug: raum-fuer-trauer.de
48 Seiten, Hardcover, Erstauflage: 4.000 Stück deutsch, ISBN: 978-3-9825535-0-4, 1.000 Stück englisch ISBN: 978-3-9825535-1-1

Zum Autor: Tobias Blaurock (54) ist Mitglied der Initiative Raum für Trauer. Aufgewachsen in einem Pfarrhaus und nach dem Tod von Familienangehörigen und Nahestehenden verbinden ihn frühe und enge Berührungspunkte mit der Trauerarbeit. Tobias Blaurock ist Autor von „Weiterreden, weiterleben“.
Hier finden Sie den Originalartikel zum Download:
Weiterreden, weiterleben