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Weihnachten auf freiem Feld

Weihnachten in Trauer-Zeiten? Trauernde kennen diese Erfahrung auch ohne Corona, denn mit dem Tod eines geliebten Menschen ist Advent und Weihnachten auch anders. Die vertrauten Rituale, die man gemeinsam gepflegt hat, sind nicht mehr möglich. Schöne Erinnerungen bringen das „Nie wieder“ ans Tageslicht und tun zunächst nur weh.

Weihnachten auf freiem Feld

Weihnachten in Corona-Zeiten?

Weihnachten so zu feiern, dass es nicht in Enttäuschung oder im Streit endet, ist schon unter normalen Bedingungen nicht einfach. Das Gemisch an nostalgischen Sehnsüchten, familiärem Druck und religiöser Deutung ist mächtig. Was wir „alle Jahre wieder“, zuverlässig und vertraut oder herausfordernd und zwiespältig, gefeiert haben, stellt uns gerade viele Fragen: Wie wird es gehen, ohne die vertrauten Rituale? Ohne Weihnachtsmarkt und ohne Adventskonzert? Ohne Christmette und Kinderkrippenfeier, ohne „Stille Nacht“ und „Oh Tannenbaum“? Ohne zärtliche Nähe und ohne den Stress mit schwieriger Verwandtschaft?

Weihnachten mit all den persönlichen kleinen Alltagsritualen ist aus unserem Leben nicht wegzudenken. Und auch die großen, heiligen Rituale sind an Weihnachten bedeutsam – nicht nur für religiöse Menschen. Die Verbindung von Kerzenschein, Musik und Gedanken zur Gottesgeburt im Menschen berührt unsere Seele in der dunklen Jahreszeit ganz besonders. An Weihnachten lassen wir uns berühren. Das müssen wir nicht verstehen und nicht erklären.

Dieses Jahr ist alles anders, und wir wissen nicht, wie wir Weihnachten unter Corona-Bedingungen gestalten und wie wir es überstehen werden. Wir schauen mit Sorge, vielleicht auch mit Angst auf die kommenden Wochen.

Weihnachten in Trauer-Zeiten?

Trauernde kennen diese Erfahrung auch ohne Corona, denn mit dem Tod eines geliebten Menschen ist Advent und Weihnachten auch anders. Die vertrauten Rituale, die man gemeinsam gepflegt hat, sind nicht mehr möglich. Schöne Erinnerungen bringen das „Nie wieder“ ans Tageslicht und tun zunächst nur weh. Vor allem im ersten Jahr nach dem Tod ist die vertraute Form, Weihnachten zu feiern, undenkbar. Viele würden es am liebsten ausfallen lassen. Liebevoll gemeinte Einladungen in die Familien der Freunde machen die eigene Situation nur schmerzlich bewusst. Die Sorge, man könnte die Festfreude der andern mit der eigenen Trauer stören, macht es zusätzlich schwer.

Trauernde wissen, dass Weihnachten zum Problem werden kann, besonders im ersten Jahr. Und sie haben erfahren, dass sie es trotzdem überstanden haben. Für viele, die sich dieses Jahr wegen Corona von ihren Verstorbenen nicht verabschieden konnten oder nur eine reduzierte Beerdigung halten konnten, kommt der Schmerz um dieses Versäumte erschwerend dazu.

In den Trauergruppen, die ich begleitet habe, war das Weihnachtsfest immer ein schwieriges Thema. Insbesondere junge Witwen und Witwer führten heftige Diskussionen in ihren Familien. Auf gar keinen Fall wollten sie einen Christbaum aufstellen, während die Kinder darauf bestanden, dass es wenigstens einen Christbaum geben müsse, wenn schon sonst alles anders sei. Wir haben gemeinsam nach Formen gesucht, in der Trauer dem Weihnachtsfest Sinn und Freude abzutrotzen.

Neues Weihnachtsritual in der Trauer

Mit den Kindern entdeckten wir ein neues Ritual, inspiriert durch eine Erfahrung der Familie des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der 1945 im KZ Flossenbürg starb. Sein Bruder Walter war im April 1918 gefallen, und um mit dieser schmerzlichen Lücke das erste Weihnachtsfest überstehen zu können, hatte die Mutter eine wunderbare Idee:

“An diesem Weihnachtstag sagte unsere Mutter: Wir wollen nachher hinübergehen. Das Hinübergehen heißt, wir gehen alle auf den Friedhof. Mama und Papa sind vorher noch einmal ins Wohnzimmer gegangen und haben einen Tannenzweig vom Baum geschnitten mit einem Licht und Lametta und nehmen diesen Weihnachtszweig für das Grab von Walter mit. Auch in den folgenden Jahren ist es zu Weihnachten bei diesem Friedhofsgang geblieben.“

Dieses Ritual der Familie Bonhoeffer haben viele Trauernde für ihre Familien adaptiert. Dem Christbaum darf man ansehen, dass es eine Lücke, eine Wunde gibt. Man darf sehen und erfahren, dass Weihnachten sein „Heilsein“ verloren hatte. Dass diese Lücke nicht überspielt wird, ist für die Familien tröstlich. Kräfteraubend ist es, sie leugnen zu müssen. Die Kinder haben die Lücke am Christbaum manchmal noch gestaltet, angemalt oder ein Foto aufgeklebt. Interessant ist der Austausch in der Trauergruppe nach Weihnachten und die Frage, wie sichtbar oder wie verborgen der fehlende Ast sein durfte. Und wer den Zweig abgeschnitten hat. Und wie es war, ihn gemeinsam auf den Friedhof zu bringen. Berührende Geschichten!

Ein Schatz an alten und neuen Ritualen

Rituale geben Halt und Struktur. Sie helfen, Schmerz und Freude einen würdigen und bleibenden Ausdruck zu geben. Auf dieses existentielle Menschheitswissen können wir uns verlassen. Vielleicht kann in diesem Jahr, wenn für alle Weihnachten anders sein wird, eine neue Behutsamkeit wachsen im Umgang mit unserer Trauer. Vielleicht sind wir jetzt besonders herausgefordert, uns von manchen alten Ritualen zu verabschieden und sie zu betrauern. Oder wir könnten sie neu beleben, sie auf ihren tiefen Sinn befragen und kreativ verändern. Wir könnten, wie die Familie Bonhoeffer und viele trauernde Familien, neue Rituale kreieren. Das große Geheimnis dieses Rituals liegt darin, dass es Altes, Vertrautes (den Christbaum) behält und das Neue, Schmerzvolle (die Lücke) zulässt.

Ich denke an eine Dame aus der Trauergruppe, die die Bonhoeffer-Geschichte einer befreundeten Witwe erzählte. Sie kannten sich vom Friedhof, weil ihre zu pflegenden Gräber nahe beieinander waren, und hatten verabredet, dass jede zu Hause einen Zweig aus dem Christbaum schneidet. Am Heiligen Abend trafen sie sich an den Gräbern, um den Zweig dort abzulegen. Sie wollten dabei einander etwas vorlesen. Die eine las ein Lieblingsgedicht ihres Mannes, die andere einen Abschnitt aus der Weihnachtsgeschichte. Anschließend gingen sie zusammen ins Café. Sich mit einem Christbaum-Zweig auf dem Friedhof zu treffen, das könnte auch dieses Jahr eine Corona-konforme Idee sein – auch ohne Café-Besuch.

Weihnachtsfest auf freiem Feld

Mit Brüchen und Lücken, mit Krankheit und Tod, mit Trauer und Pandemie ist das Leben gerade eine Zumutung. Sie könnte uns helfen, Weihnachten neu zu verstehen. Denn in der Unsicherheit und Unbehaustheit, die wir erleben, sind wir dem Sinn des Festes sehr nahe. Auch Maria und Josef waren unbehaust und ausgesetzt und fanden für ihr neugeborenes Kind keine ordentliche Unterkunft. Dass Gott in diese irdische Zumutung hinein Mensch geworden ist, macht das Fest für mich so groß. Damit sind die schmerzlichen Lücken nicht beseitigt, aber Gott ist größer als menschliche Lücken und steht für die Hoffnung, dass wir sie aushalten und verwandeln können.

Auch der gläubige Dietrich Bonhoeffer plädiert dafür, die Lücke, die durch den Tod eines Menschen entsteht, auszuhalten und nicht vorschnell durch Gott aufzufüllen, „denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere alte Gemeinschaft miteinander – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren.“*

Die Zeit zwingt uns gerade, vieles auszuhalten. Wir brauchen deshalb ein verlässliches Gegenüber, ein menschliches und göttliches, das unsere Klagen hört und aushält. Auch wenn es wenig Trost in diesen Tagen gibt, kann es uns doch ganz unerwartet in der Nacht unserer Ängste anrühren, wenn der Engel den eingeschüchterten Hirten auf freiem Feld zurufen: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.“ (Lk 2,14) – Das ist jetzt auch uns gesagt! „Fürchtet euch nicht!“

*Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. von Eberhard Bethge. Gütersloher Verlagshaus Mohn, 11. Aufl. TB, Gütersloh 1980, S.99.

AUTORIN: Dr. Angelika Daiker studierte in Tübingen, München und Wien Germanistik und Theologie. Sie ist seit 1990 in der Hospizarbeit zunächst ehrenamtlich und seit 1995 hauptberuflich engagiert. 2007 – 2017 leitete sie das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie auch konzeptionell aufgebaut hat. Ihr besonderer Blick galt immer der Begleitung Trauernder, sodass ca. 15 verschiedene Trauergruppen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene entstanden sind. A. Daiker ist Autorin vieler Bücher im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung.

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