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Das Gespenst von Wawa Bar: Seelenbestattung bei den Miskito Nicaraguas

Wir sind auf dem Weg nach Wawa Bar, zu einer kleinen Gemeinde von etwa 1.500 Personen an der Karibikküste von Nicaragua. Das Motorboot durchkreuzt die von Mangroven gesäumten Kanäle. Wir sehen Fischer in kleinen Bötchen bei der Arbeit. Nach etwa einer Stunde Fahrt geben die Mangrovenwälder die Sicht auf das türkisblaue Meer frei. Sonnenstrahlen tanzen auf den Wellen, darüber kreisen Pelikane und Möwen. Es sieht nach Paradies aus: weißer Sandstrand, Palmen und Mangobäume.

Das Gespenst von Wawa Bar: Seelenbestattung bei den Miskito Nicaraguas

Geisterfriedhof von Wawa Bar

Hier an der Atlantikküste leben die Miskito, eine indigene Gruppe der autonomen Region „Costa Norte“ Nicaraguas, die sich ebenso mit europäischen Seeräubern wie auch mit afrikanischen Sklaven vermischten. Die meisten von ihnen wurden seit den 1930er Jahren vom böhmischen Herrenhuter Orden, der „Moravian Church“, missioniert und sind offiziell zum Christentum übergetreten.
Ein Betonsteg führt vom Strand ins Dorf, das aus bunt zusammengewürfelten Holzhäusern auf Pfählen besteht. Einige sind himmelblau oder maigrün angemalt, den Farben der Karibik. Bei anderen ist die Farbe abgeblättert und sie sind verlassen. Es ist Regenzeit und die Wiesen zwischen den Häusern stehen halb unter Wasser.

Empfang vom Pfarrer und den Dorfältesten

Vor der überdimensionalen Kirche von Wawa Bar haben sich die Autoritäten der Gemeinde eingefunden, um uns zu empfangen: der Pfarrer, die Dorfältesten sowie Frauen, Männer und Kinder, die uns neugierige Blicke zuwerfen. Wir sind hier, um ein Hilfsprojekt einer kanadischen und katalanischen Organisation auszuwerten. Victoria leitet die Evaluation, Kanisha übersetzt und ich bin für die Dokumentation zuständig. Regenwolken hängen über der Landschaft, zwischen den Häusern tummeln sich Kühe, Ziegen, Schweine und Hühner.

Nach einer kleinen Stärkung mit frischer Kokosmilch und Bananengebäck, die von den Begrüßungsreden begleitet werden, weist man uns unser Quartier zu, für die nächsten drei Tage und Nächte. Es ist ein verlassenes Holzhaus auf Pfählen mit einer herrschaftlichen Betontreppe und einem kleinen Vorbau, von dem aus man hinüber sehen kann zu den Nachbarhäusern. Doch die Bodenbretter im Inneren sind schon recht brüchig geworden. Sie stöhnen unter unseren vorsichtigen Schritten. Victoria, die schon Schlimmeres gesehen hat, steckt ein paar weiße Blätter in die Ritzen, um die gefährlichen Stellen zu markieren.

Das traditionelle Haus ist einfach und zweckmäßig aufgeteilt. Die rechte Hälfte dient als Gemeinschaftsraum und linkerhand gehen zwei Schlafkojen ab. Im hinteren Teil liegt quer die Küche, in der ein weiteres Bett steht. Alle Betten sind mit Moskitonetzen geschützt, denn jetzt, während der Regenzeit, gibt es hier häufig Malaria- und Denguefieber. An einer Wand hängt ein verblichenes Hochzeitsfoto der Familie, die hier wohl mal gelebt hat.

Verblichenes Hochzeitsfoto als Hinweis auf die einst im Haus wohnende Familie

Zwischen Ziegen, gekachelten Grabstätten und Betonkreuzen

Bevor die Sonne untergeht, schickt uns unsere Wirtin, Doña Virgínia zu einem nahen gelegenen Hause, wo wir noch etwas Kekse und Wasser kaufen. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick über das Gelände und zum Waldrand hin über den Friedhof. Auf einem der gemauerten Gräber haben es sich ein paar Ziegen gemütlich gemacht und wir beschließen, uns den Ort etwas näher anzusehen. Andere Grabstätten sind gekachelt. Sie liegen relativ eng aneinandergereiht, dazwischen stehen Betonkreuze auf Halbmast, vor denen nur noch ein eingesunkener Grabhügel anzeigt, dass hier jemand bestattet wurde. Der Boden ist vom Regen aufgeweicht und unsere Füße sinken ein auf dem heiligen Gottesacker. Wir beeilen uns nach Hause zu kommen.

Friedhof mit gekachelten Grabstätten

Zum Abendessen gibt es „gallo pinto“, das nicaraguanische Nationalgericht: Bohnen mit Reis. Erschöpft sinken wir in unsere Kojen. Doch plötzlich, mitten in der Nacht, klingelt mein Handy. Das ist komisch, denn ich habe hier gar keinen Empfang. Wer ruft da an? Ich wühle es aus meinem Rucksack. Es ist der Wecker, den ich allerdings nicht gestellt hatte. Es ist zwei Uhr morgens. Ich schalte das Ding aus und verkrieche mich wieder unter mein Moskitonetz.

Am nächsten Morgen berichtet Kanisha mit weit aufgerissenen Augen, dass sie im Schlaf Tritte und Knarzen gehört hätte. „Ich lag auf dem Bauch und konnte mich nicht bewegen. Ich hörte diese Schritte, die immer näherkamen. Und dann spürte ich, wie mich jemand an den Füßen und ein anderer am Kopf berührte. Aber ich konnte nicht schreien, mich nicht einmal umdrehen und ich war voll in Panik.“ Schließlich gelingt es ihr, aufzuwachen. Es war ein Traum und trotzdem real.

Wir sind neu hier – und dann kommen „sie“ uns besuchen

Wir gehen zum Frühstück rüber zu Doña Virgínia. Sie meint, dass sei kein Wunder, wir sind neu hier und dann kommen „sie“ uns besuchen. Victoria glaubt kein Wort. Es gibt „gallo pinto“. Die nächste Nacht erwischt es mich. Ich träume und bin gleichzeitig vollkommen wach, mein ganzer Körper ist alarmiert. Ich kann mich nicht bewegen und sehe das Moskitonetz in hellem Licht, gleichzeitig spüre ich eine Kraft, die mich in die hintere Ecke des Bettes drückt. Als es mir gelingt, aufzuwachen, mache ich erstmal meine Taschenlampe an. Es ist nichts zu sehen und es scheint, als ob die anderen schlafen. Kann es sein, dass uns die Geister vom Friedhof gefolgt sind?

Doña Virgínia bewirtet uns

Am nächsten Morgen, beim Frühstück, Bohnen mit Reis, erzählen wir Doña Virgínia, von unserem Friedhofsbesuch. „Klar, da liegen ein paar schlechte Menschen, Vergewaltiger und Mörder,“ meint sie lakonisch. Die letzte Nacht schlafen wir gar nicht mehr. Wir müssen sowieso um 4 Uhr morgens aufstehen, um das Boot zurück nach Bilwi zu nehmen. Doch die Sache beschäftigt uns.

Der nächtliche Besuch: ein klarer Fall von „isigni“

In Managua habe ich die Gelegenheit mit der Ethnologin Daisy George zu sprechen. Unsere Erfahrungen sind ein klarer Fall von „isigni“. Für die Miskito gibt es drei unterschiedliche Dimensionen der Seele. Die christlich inspirierte Seele „alma“ geht direkt in den Himmel, „bakul“ bleibt innerhalb der Gemeinde und „isigni“ ist der Totengeist, der im Haus des Verstorbenen verbleibt. „Isigni“ bewegt sich im Haus herum. „Du hörst Schritte und keiner ist zu sehen,“ beschreibt auch Sirina Leman, die Heilerin im Video der Ethnologen Aurelio Ramos und Cecilio Tatallon.

Wir fragen uns, ob die „isigni“ einen Übergangsraum bewohnen, eine Art „Traum-Raum“, in dem er den Lebenden begegnen kann. So hatte sich das angefühlt. Nach alter Miskito-Tradition muss „isigni“ mit dem Körper des Verstorbenen beerdigt werden, um so den Geist in die Dimension des Todes zu überführen. Das geschieht normalerweise neun Tage nach der Bestattung des Leichnams. Der Heiler oder die Heilerin nimmt den Totengeist in einem Wattebausch auf und legt ihn bei dem Verstorbenen ab. Das war in unserm Haus offenbar nicht geschehen. Unter dem Einfluss der Moravian Church wird das Miskito Seelenbestattungsritual nur noch selten durchgeführt. Doch solange sie gefüttert werden, stellen diese Totengeister offenbar keine größere Gefahr für die Lebenden dar. Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir ihnen gerne etwas „gallo pinto“ hinterlassen.

Bis ins 19. Jahrhundert kannte man im deutschen Volksglauben diverse Praktiken zur Gewährung der ewigen Seelenruhe – insbesondere in Mecklenburg, Brandenburg, Hessen, Thüringen, Ostpreußen, Schlesien. Die Lebenden hatten Angst vor einer Wiederkehr der Totenseelen und davor, dass der Verstorbene sich in sein altes Leben zurücksehnen könnte.
„…Vor allem muss alles, was der Tote als Speisegeräte zu Lebzeiten benützt hat, überhaupt alles, dessen er sich zuletzt besonders gern bediente, entweder ins Grab mitgegeben oder vernichtet werden. Hier macht sich die animistische Auffassung geltend, dass der Seelen- oder Vitalstoff des Menschen an seinen Gebrauchsgegenständen haftet.“

„Am dritten, sechsten, neunten und vierzigsten Tage nach dem Leichenbegängnis fand ein Mahl der Anverwandten des Verstorbenen statt, dessen Seele auch herbeigerufen und gleich wie noch andere Seelen bewirtet wurde. Wenn die Mahlzeit verrichtet war, stand der Priester von dem Tische auf, fegte das Haus aus, und jagte die Seelen der Verstorbenen hinaus mit den Worten: „Ihr habt gegessen und getrunken, oh ihr Seligen, geht heraus, geht heraus.“ Fast wörtlich findet sich diese Formel energischer Ausladung bereits bei den Griechen.

 (Quelle: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band I, 140, Band IV, 1212, Walter de Gruyter, Berlin und Leibzig 1927)

Dr. Ulrike Prinz, Ethnologin

Direktor: Armando Gómez Green, unter Mitwirkung von Aurelio Martinez und Cecilio Tatallon

Isigni ist das Ritual, das von den Miskitus durchgeführt wird, damit die leidenden Geister, die die physische Welt heimsuchen, ihr Ziel erreichen und aufhören können, den Lebenden Krankheiten zuzufügen.

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