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Trauer, Trost, Twitter

Vor drei Monaten hat ein großer Teil meiner Welt diese Welt verlassen. Vor drei Monaten ist mein Vater – mein Vater, den ich so doll liebe – gestorben. Nach gerade einmal 65 Jahren hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Ich war immer überzeugt, ich würde zusammenbrechen, wenn das passiert. Und doch habe ich es geschafft, meine Schwester zu informieren, ohne dabei zu weinen und ich habe es geschafft, jemanden zu organisieren, der an ihrer Seite ist (um sie zu stützen). Irgendwann nach ein paar Stunden habe ich dann doch geweint, um den, der sich für mich freuen konnte, wie kein Zweiter und dessen strahlende Augen manchmal so voller Liebe waren, dass ich weggucken musste. So viel Liebe ist ja nicht immer auszuhalten. Und doch, allein die Tatsache, dass es sie gab, seine Liebe, lässt mich das Leben ohne ihn aushalten. Die Liebe und die Erinnerungen, das sind die Antagonisten des Todes. Gegen die ist sogar der machtlos.

Trauer, Trost, Twitter
© Pixabay / StockSnap

Die erste Woche

An die erste Woche erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Was ich erinnere: schreiben, tweeten, reden, telefonieren, weinen, liegen, Nervenzusammenbrüche und wieder mal ganz viel Liebe und Dankbarkeit. Es war furchtbar, aber auch wie in Watte gepackt. Eine Freundin sagte zu mir „du hast jetzt erstmal Welpenschutz“ und so fühlte sich das auch an. Ich war eigentlich nur noch Fühlen, und dieses Fühlen schrieb ich in das Internet hinein.

Ich habe irrsinnig viel kommuniziert in dieser nur schemenhaft zu erinnernden Woche. Wenn ich mal wieder ganz doll geweint habe und mich kaum beruhigen konnte, meinte mein Mann „ruf doch nochmal jemanden an, das tut dir immer so gut“. Kaum hatte ich jemandem am Telefon, war meine Stimme wieder fest und waren die Tränen verschwunden. Bei allem Schönen und bei allem Schlimmen und auch bei allem Banalen habe ich immer meinen Papa angerufen. Ihn nicht anrufen zu können, um ihm zu sagen, dass er tot sei, das war ganz schlimm und ungewohnt und nicht greifbar für mich. Er musste das doch wissen und vor allem musste er mich doch trösten.

Wohin mit all dem Fühlen?

Ihm konnte ich es nicht mitteilen, aber den Menschen im Internet schon. Und so schrieb ich meine Trauer dort hinein, auf Twitter und in meinen Insta-Stories, überall war plötzlich mein Papa. Er hatte die Welt verlassen, aber ich hielt ihn lebendig und teilte Erinnerungen, Fotos und meine tiefe, tiefe Traurigkeit. Wie viel Trost darin stecken konnte, hätte ich nicht gedacht. Noch weniger erwartet hätte ich, wie viele Menschen mir schreiben würden, ich hälfe ihnen mit meinen Tweets in ihrer eigenen frischen und manchmal auch alten Trauer. Wenig hilft mir so, wie das Wissen, anderen helfen zu können. Was genau, frage ich mich, ist an meiner Art über diesen riesigen Verlust zu schreiben so hilfreich? Warum fühlen sich so viele davon angesprochen?

Eigentlich wollte ich ja mir selbst helfen und plötzliche erreichten mich Nachrichten, die mir bestätigten, wie gut es sei, wie erleichternd, dass jemand so offen über den Schmerz, die Trauer, die Wut, über das Sich-Okay-Fühlen, wenn nichts mehr okay ist, schreibt. Eigene Trauerprozesse würden nochmal neu angestoßen und bei der Verarbeitung unterstützt, Trauernde fühlten sich nicht mehr so alleine mit diesem „Jahrmarkt an Gefühlen“. Die Resonanz tat mir gut und half mir durch die Tage und Wochen.

Trauern in Echtzeit

Für diesen Text bin ich nochmal in meinem Postfach nach unten gescrollt und habe einige der Nachrichten von Follower*innen erneut gelesen. Am häufigsten schrieben sie mir: Danke für deine Offenheit und die Liebe, die aus deinen Zeilen spricht. Es gibt einige professionelle Accounts, die über das Trauern schreiben, aber da geht es eher selten darum, die frische Trauer sozusagen „live“ mitlesen zu dürfen. In meinen Tweets habe ich wohl meine Trauer in allen ihren Facetten direkt zeigen können.

Im Englischen wird zwischen Grief und Mourning unterschieden. Grief steht hierbei für das innere Erleben und mourning für das, was nach außen getragen wird – zum Beispiel schwarze Kleidung. In meinen Tweets habe ich offenbar diese beiden Trauerarten verbunden, in Echtzeit konnte ich mein Inneres nach außen tragen. Und in Echtzeit habe ich auch Resonanzen bekommen. Ein besonderer Trost waren Nachrichten von Menschen, die mir schrieben, sie könnten sich meinen Vater nun richtig vorstellen. Einmal habe ich auch um Zitate und Gedichte zum Thema Tod und Trauer gebeten, es kamen bestimmt 400 Antworten. Ich habe vieles gefühlt in dieser Zeit, aber alleine gefühlt habe ich mich nie. Es war immer jemand da, es hat immer jemand reagiert, es hatte immer jemand ein Wort des Trostes oder ein Herz-Emoji, egal wann und egal wie oft ich das brauchte.

Die Trauer in das Leben integrieren

Über Tod und Trauer wird nicht gerne gesprochen, ja es passiert wohl, man munkelt da sowas, aber damit zu tun haben möchte man nichts. Ist ja noch Zeit. Es ist eben nicht immer noch Zeit und deshalb ist es wichtig, dass die beiden großen „Ts“, Tod und Trauer, wieder mehr in das Leben integriert werden.

Hierbei helfen die Sozialen Medien enorm. Es geht beim Trauern nicht darum, ein Jahr Schwarz zu tragen und das Leben auf Pause zu setzen. Vielmehr gehört die Trauer zu unserem alltäglichen Leben. Die darf mit am Frühstückstisch sitzen, die darf Tränen in der Badewanne verteilen, die darf sich kaputtlachen und die darf auch wütend sein auf die verstorbene Person. Trauer ist nicht nur traurig sein. Trauer ist eine Gemengelage an Gefühlen und das Bild des Jahrmarkts scheint mir nicht mal so unpassend. Es ist eine Geisterbahn, aber auch ein Karussell und eine Losbude, man weiß nie, welches Gefühl heute oder in den nächsten Stunden dominieren wird.

Vielleicht ist es auch das, was die Menschen an meiner Form der Trauerverarbeitung so hilfreich finden, sie bekommen die Absolution für ihre Gefühle erteilt. Wir dürfen alles fühlen und müssen nicht ununterbrochen weinen. Aber auch das dürfen wir und dann sollten wir um Hilfe fragen, unsere Freund*innen wollen aus ihrer Hilflosigkeit geholt werden und freuen sich zu erfahren, was sie tun können, um uns das Unerträgliche erträglicher zu machen.

Einen Trauer-Knigge gibt es nicht

Mit der Trauer ziehen auch viele Schuldgefühle bei uns ein. Eine Frage, die vielen Trauernden das Leben noch schwerer macht, ist: Wenn ich nicht genug trauere, liebe ich dann genug? Dabei, so ein Glück, gibt es keinen „Trauer-Knigge“. Wir trauern, wie wir eben trauern und der Mensch, um den wir trauern, hätte sicher nicht gewollt, dass wir uns auch noch deswegen zerfleischen, weil wir mal nicht traurig sind. Traurig werden wir noch oft genug sein, manchmal vollkommen unerwartet, wie aus dem Nichts. Und ebenso werden wir dann wieder froh sein, manchmal vollkommen unerwartet, wie aus dem Nichts.

 

Sarah Lorenz ist gelernte Buchhändlerin, Studentin der Sozialen Arbeit, freie Autorin und wohnt – nach eigenen Angaben – im Internet, ihre Lieblingszimmer dort sind Twitter und Instagram.

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