Galt der erlösende Gott der Christen als Sohn einer Jungfrau, so glaubten die Anhänger des Mithraskults an die Geburt ihres Gottes aus einem Stein oder Felsen. Da petra „Fels“ im Lateinischen weiblich ist, wurde auch der „gebärende Fels“ als Göttin personifiziert. Bildlich dargestellt ist die Szene auf einem berühmten Relief aus Rom, in dem der jugendliche Gott gleichsam aus dem Stein herauszuwachsen scheint.
Aus den Steinen entstand eine neue Menschheit
Eine weitere wunderbare Geburt aus dem Stein kennen wir aus der literarischen Gestaltung des betreffenden Mythos durch den römischen Dichter Ovid: Einst entgingen Deukalion, der Sohn des Prometheus, und seine Frau Pyrrha am Ende des Ehernen Zeitalters als einzige Überlebende einer großen Flut, durch die alle anderen Menschen umkamen. Um die Erde wieder zu bevölkern, rieten ihnen die Götter, „die Knochen der Mutter“ hinter sich zu werfen, was sie nach einigem Nachdenken auf die Mutter Erde und die in ihr verborgenen Steine bezogen. Aus den Steinen, die sie hinter sich warfen, entstand eine neue Menschheit.
Leben aus totem Stein – ein Wunder, das allein Gott wirken kann
Der Gegensatz zwischen Stein und Leben oder, anders gesagt, die Nähe des Steins zum Tod hat in der Religionsgeschichte vielfältigen Ausdruck gefunden. Da sind zum einen die Erzählungen von versteinerten Menschen, von denen viele auf eigentümlich geformte oder angeordnete Felsen zurückgehen dürften. Ein typisches Beispiel ist „Der alte Mann von Storr“ (Bodach an Stòrr), eine knapp fünfzig Meter hohe und weithin sichtbare Felsnadel auf der Hebrideninsel Skye, neben der sich einst ein weiterer – inzwischen umgestürzter – kleinerer Fels erhob. Der Sage nach waren dies ursprünglich ein alter Mann und seine Frau, die während ihrer Suche nach einer entlaufenen Kuh zu Stein erstarrten, als sie auf der Flucht vor Riesen einen Blick zurück über die Schulter warfen. Hinweise auf ähnliche Überlieferungen geben etwa die antike Sage von Niobe, die aus Schmerz über den Tod ihrer Kinder versteinerte, oder die noch heute geläufige walisische Bezeichnung des vorgeschichtlichen Steinkreises von Stonehenge als Côr y Cewri („Riesenreigen“), die schon im zwölften Jahrhundert in einer lateinischen Übersetzung als Chorea Gigantum erscheint.
In den monotheistischen Religionen gilt die Verwandlung von Menschen in leblose Felsen, ebenso wie die Entstehung von Leben aus totem Stein, als Wunder, das allein Gott wirken kann. „Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken“, spricht Jesus dem Verfasser des Matthäusevangeliums zufolge gleich bei seiner ersten öffentlichen Predigt (Matthäus 3,9). Auch im Koran bekräftigt Muhammad auf das ausdrückliche Geheiß Gottes hin die Gewissheit der Auferstehung mit dem Hinweis darauf, dass der Schöpfer die Menschen am Tag des Jüngsten Gerichts auch dann wieder zum Leben erwecken würde, wenn sie Steine oder Eisen wären (Sure 17:50).
Anders als im Koran spielt in der Bibel indessen auch die Vorstellung vom Stein oder Fels als Inbegriff der Festigkeit und Dauer eine wichtige Rolle. In Anlehnung an dieses Bild erscheint in den Psalmen mitunter auch Gott selbst als „mein Fels und meine Burg“.
Die zentrale Rolle, die Steine im Kult einer Gottheit spielen konnten, erzählt die Geschichte des faustgroßen Meteoriten, der als Manifestation der Göttermutter Kybele aus Kleinasien nach Rom überführt und dort in einem eigenen Tempel von Staats wegen verehrt wurde. Der Umstand, dass es sich dabei um einen Meteorstein handelte, zeigt die besondere Bedeutung, die eine ungewöhnliche Färbung, Form oder Oberfläche für die Verwendung eines Steins im Kult spielen konnte – wie man ja auch in dem „Schwarzen Stein“ der Kaaba in Mekka den Überrest eines Meteoriten vermutet.
Steine im Toten- und Grabbrauchtum
Gleichsam im Schnittpunkt der kultischen oder religiösen Verwendung von Steinen, und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen von Kontinuität und Dauer, steht ihre Nutzung im Toten- und Grabbrauchtum. Archäologisch ist die Verwendung von Steinen bei der Anlage von Gräbern schon für die Altsteinzeit nachgewiesen, doch liegen die Gründe dafür weitgehend im Dunkeln und mögen im Einzelnen durchaus verschieden gewesen ein. Vielleicht spielte der Wunsch nach einer dauerhaften Kennzeichnung des Grabs für die Hinterbliebenen dabei eine Rolle, vielleicht auch nur die Sorge um eine Störung der Totenruhe durch aasfressende Tiere. Im eisenzeitlichen Grab von Hochdorf aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr. war die hölzerne Grabkammer mit dem reich ausgestatteten Leichnam durch eine darüber liegende Steinpackung wie in einem Tresor geschützt, doch vermag letztlich niemand zu sagen, ob dabei die Abwehr von Grabräubern, die Furcht vor einer Wiederkehr des Toten oder ganz andere Gründe den Ausschlag gaben.
Ein besseres Verständnis der Verwendung von Steinen im Grabbrauchtum ermöglichen schriftliche Zeugnisse über Bestattungen und die damit verbundenen Riten, die in Ägypten und im Alten Orient im dritten Jahrtausend einsetzen. Reiche Quellen haben wir besonders für die drei monotheistischen Religionen, die auch eine breite Vielfalt unterschiedlicher Bräuche erkennen lassen. Am einen Ende des Spektrums stehen ein oder zwei naturbelassene Steine, mit denen das Kopf- und manchmal auch das Fußende des Grabes bezeichnet werden; am anderen Ende stehen aufwändige, auf Monumentalität und Dauer berechnete steinerne Grabbauten. Wie schon im Alten Ägypten, dokumentieren mitunter Grabinschriften die Individualität der Toten und mahnen zugleich die Lebenden. Vieles jedoch – darunter der bekannte und heute weit verbreitet Brauch des Niederlegens kleiner Steine beim Besuch eines Grabes – hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Ist aber ein schöner wiedergefundener Brauch für den Aufbruch in neue Grab- und Trauerrituale.
Prof. Dr. Bernhard Maier studierte Vergleichende Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Keltische Philologie und Semitistik. 1998 habilitierte er sich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zum Thema: Die Religion der Kelten: Götter, Mythen, Weltbild. Er ist Autor vieler Publikationen.