Bedürfnisorientiert begleiten – was heißt das?
Im letzten Blockseminar des Semesters wird es noch einmal ganz konkret. Drei Tage lang werten wir unsere Praktikumserfahrungen aus, diskutieren Falldarstellungen und den Umgang mit besonderen Lebensfragen. Außerdem erhalten wir noch einmal viel hilfreichen Input von Expert:innen aus der Seelsorge, um trauernde und sterbende Menschen gut begleiten zu können. Und auch der persönliche Austausch kommt nicht zu kurz: mit dem für viele von uns nahenden Ende des Studiums im Oktober stellt sich die Frage: wie geht es für die Studierenden dann weiter mit den Perimortalen Wissenschaften?
Als Personen, die sterbende und trauernde Menschen begleiten, sollen wir bedürfnisorientiert arbeiten – also nicht von dem ausgehen, was wir selbst in der jeweiligen Situation als sinnvoll oder dienlich empfinden, sondern uns auf unser Gegenüber einstellen und im Sinne ihrer Bedürfnisse unterstützen. Das klingt erstmal logisch. Allerdings: Wer selbst schon einmal in einer herausfordernden Lebensphase war weiß vielleicht, wie schwer es sein kann, diese Bedürfnisse klar zu benennen. Durch eine einfühlsame und ergebnisoffene Begleitung kann es aber gut gelingen, sich diesen Themen anzunähern. Im Seminar konnten wir diese Art der Gesprächsführung in Kleingruppen an ganz konkreten Beispielen aus unseren Praktika üben und schärften außerdem unser Verständnis dafür, wie wir auch durch eine genaue Betrachtung der Situation Bedürfnisse unseres Gegenübers erkennen können. Eine Fallbetrachtung ist mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Berichtet wurde von einem Patienten, der durch einen Seelsorger im Hospiz besucht wurde. Einige für ihn relevante Themen waren bekannt, im gemeinsamen Gespräch sollte nun geschaut werden, wie noch offene Fragestellungen gut zu einem Abschluss gebracht werden können. Der Seelsorger betrat also den Raum, setzte sich an das Bett des Mannes, der nicht mehr mobil war, sich nicht mehr gut artikulieren konnte und durch ein Tracheostoma (Luftröhren-Beatmung) atmete. Der Patient wirkte unruhig und schien sich nicht recht auf das Gespräch einlassen zu können. So versuchte der Seelsorger verschiedene Ansätze, um mit ihm in den Austausch zu treten – ohne Erfolg. Dann bemerkte er jedoch, dass der kranke Mensch mit den Augen einem Insekt folgte, welches im Raum herumflog. Es war eine Wespe und der Patient war aufgrund der eingeschränkten Mobilität und des Tracheostomas besorgt um seine Sicherheit. Nachdem das Tier entfernt wurde, konnte ein Gespräch stattfinden.
Anhand dieses Beispiels konnte ich gut erkennen, wieso es in einer Begleitung wichtig ist, den eigenen Blick auf die Situation zu weiten. Dinge, die für mich lediglich eine Unannehmlichkeit darstellen, können für eine andere Person von großer Bedeutung – ja sogar eine Bedrohung – sein. Ein Mensch muss sich sicher fühlen und gut versorgt sein, bevor er oder sie die Kapazitäten hat, eine Begleitung gut annehmen zu können. Zukünftig werde ich sterbenden oder trauernden Menschen also mit wachem Blick für die individuelle Gesamtsituation begegnen und versuchen, Bedürfnisse klar zu benennen.
Die Frage nach dem Sinn
Nach dem Verlust eines wichtigen Menschen stellen sich viele Trauernde die Sinnfrage – Was bleibt noch von mir, wenn diese Person fort ist? Wie können die nächsten Wochen, Monate oder Jahre ohne sie aussehen? Mit dem Tod der Ehefrau, des Sohnes oder des Vaters verliert das Leben oft eine wichtige Konstante und bestehende Strukturen müssen neu definiert werden. Für diese großen Lebensfragen gibt es selten eine einfache Antwort. Im Seminar durften wir jedoch eine Möglichkeit kennenlernen, um Menschen bei der Suche nach ihrem Sinn in Begleitungssituationen unterstützen zu können.
Die LeBe Kartenmethode, entwickelt von Prof. Dr. Tatjana Schnell, ermöglicht ein aussagenbasiertes Gespräch zur Identifikation und Erkundung persönlicher Lebensbedeutungen. Anstatt die Antwort auf die ganz individuelle Sinnfrage selbst verbalisieren zu müssen, nähern Menschen sich ihr über 26 vorformulierte Kernaussagen wie zum Beispiel „Ich brauche die Nähe zu anderen Menschen.“. So finden sich Worte für die Dinge in ihrem Leben, die sie selbst als bedeutsam empfinden. Durch eine Priorisierung und Betrachtung der Werte in der eigenen Lebensrealität kann eine dienliche Reflexion ermöglicht werden, welche neue Perspektiven eröffnen und persönliche Entwicklung anstoßen kann. Die LeBe-Methode ist sehr intuitiv und niedrigschwellig einsetzbar – nicht nur bei konkreten Sinnfragen, sondern auch als Gesprächsstarter in verschiedensten Kontexten. Werkzeuge wie dieses geben uns Studierenden die nötige Sicherheit, auch in herausfordernden Situationen fokussiert und im Sinne unseres Gegenübers agieren zu können. Und für diese praktische Hilfe bin ich sehr dankbar.
Master-Abschluss in Sicht – und was dann?
Unter den Studierenden der Perimortalen Wissenschaften finden sich verschiedenste Expertisen. Einige von uns werden die im Masterstudium erlernten Inhalte direkt in ihren Arbeitsfeldern einbringen können und den direkten Zugewinn für die jeweilige Tätigkeit spüren. Bei anderen, die beruflich bisher kaum Berührungspunkte mit dem Themenkomplex Trauer, Tod und Sterben hatten, stellt sich die Frage: Was nun? Ideen gibt es viele – und der Bedarf an Menschen, die eine moderne Trauerkultur in die Gesellschaft tragen, ist hoch. Das zeigt zum Beispiel der große Erfolg des neuen Instagram-Kanals „21Gramm“ des WDR. Seit dem Start Anfang Dezember 2021 berichten die drei Presenter:innen Lara, Dominik und Johanna (die übrigens das Konzept unseres Studiengangs als ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg maßgeblich mitgestaltet hat) ganz authentisch und zugewandt von individuellen Trauergeschichten, präsentieren spannende Fakten rund um Sterben und Tod oder lassen Expert:innen in aufschlussreichen Interviews zu Wort kommen. Das Interesse ist groß – nach knapp zwei Monaten folgen schon rund 43.000 Personen dem Kanal.
Sterben, Tod und Trauer ist Teil des Lebens
Doch obwohl viele von uns Studierende Potentiale für die eigene haupt- oder ehrenamtliche Arbeit sehen und es schon erste Ansätze für Projekte sowie Betätigungsfelder gibt, bleibt abzuwarten, wo und in welcher Form die Master-Absolvent:innen der Perimortalen Wissenschaften das gelernte Wissen werden einbringen können. Eins ist jedoch sicher: wir alle werden in der einen oder anderen Form dazu beitragen, Trauer, Tod und Sterben (wieder) als Teil des Lebens in unserem Wirkungskreis zu etablieren.
Sarah Zinn / Autorin, Medienschaffende und Studentin der PERIMORTALEN WISSENSCHAFTEN/Universität Regensburg https://www.uni-regensburg.de/theologie/moraltheologie/perimortale-wissenschaften-ma/index.html