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„Um zu heilen, müssen wir uns erinnern.“

Joe Bidens gelebtes Plädoyer für eine heilsame Trauerkultur

„Um zu heilen, müssen wir uns erinnern.“

Am Tag vor seiner Amtseinführung hat der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Joe Biden, zusammen mit seiner Stellvertreterin Kamala Harris, 400 000 Corona-Tote und ihre Angehörigen durch ein eindrückliches Ritual gewürdigt. Er sagte dabei einen Satz, der mich als Trauerbegleiterin aufhorchen ließ: „Um zu heilen, müssen wir uns erinnern, das ist schmerzhaft, aber nur so geht es.“

In einer Welt, die schnell vergisst und die Trauer um die Verstorbenen gerne hinter sich lassen will, verweist er auf die Heilkraft und den Trost der Erinnerung – ohne zu verschweigen, dass Erinnerung auch schmerzhaft sein kann. Er geht noch einen Schritt weiter, wenn er das Heilende der kollektiven Trauer betont: „Wir müssen das als eine Nation tun, deshalb sind wir heute hier. Wir wollen die Lichter in der Dunkelheit leuchten lassen und uns an alle erinnern, die wir verloren haben.“ Denn, so sagte Bidens Stellvertreterin Kamala Harris: Über viele Monate hätten die Amerikaner alleine trauern müssen. Die Dramatik der Verluste wurde offiziell nicht gesehen und nicht gewürdigt. So brauchte es dieses öffentlich gestaltete Ritual, mit dem die Nation gemeinsam trauern konnte.

Trauer braucht Gemeinschaft. Sie braucht Rituale und braucht Gedenkorte. Für große Unglücke oder in dieser Zeit der Pandemie braucht sie auch außergewöhnliche Ausdrucksformen.

Ein in Trauer erfahrener Präsident

Mit diesem berührenden Ritual am Vorabend seiner Amtseinführung setzt Joe Biden ein starkes Zeichen gegen die monatelange Negierung der Pandemie und gegen eine selbstüberhebliche Machbarkeit. Er respektiert das Leid indem er es sichtbar macht: 400 000 Lichter stehen für alle amerikanischen Corona-Toten, die auch die Erinnerung an andere nahestehende Verstorbene wecken. Mit diesem Ritual reiht der Präsident sich ein in die große Zahl der Trauernden. Er riskiert dabei Gefühle und kann dies tun, weil er sich mit Trauer auskennt und weiß, dass Erinnerung zwar schmerzlich sein kann, aber letztlich heilsam ist. Man nimmt ihm das ab, weil er selbst durch unendlich viel Leid hindurchgegangen ist. Ihm ist das Schlimmste passiert, was der Tod einem Menschen antun kann: Mitten im Leben werden ihm seine junge Frau und die einjährige Tochter durch einen Unfall weggerissen. Seine zwei Söhne überleben schwer verletzt, einer davon stirbt 2015 mit 46 Jahren an einem Gehirntumor.

So viel Leid möchte man am liebsten wegschieben und verdrängen. Das hat er offensichtlich nicht getan. Im Gegenteil: Die Trauer um den Verlust der geliebten Menschen ist ein wesentlicher Teil seiner Biographie, zu der er auch öffentlich steht. So wird von einer eindrücklichen Rede zu Eltern von gefallenen Soldaten berichtet, bei der er auf einer Ebene ihren Schmerz teilte. Gleichzeitig konnte er ihnen eine aus eigener Erfahrung gewonnene Zusage geben, die fast den Atem stocken lässt: „Es wird der Tag kommen, da wird euch der Gedanke an eure Lieben zuerst ein Lächeln auf die Lippen zaubern, bevor euch eine Träne übers Gesicht läuft.“ Und er sagte noch: „Der Schmerz wird nie ganz weggehen, aber er wird kontrollierbar. Das verspreche ich euch.“ Das lassen sich trauernde Eltern nur von jemand sagen, von dem sie wissen, dass er ihr Leid aus eigener Erfahrung kennt.

Trauer und Lebenskompetenz

Joe Biden wird als Politiker viele Erwartungen zu erfüllen haben. Dazu bringt er politische Erfahrung mit, einfach wird es trotzdem nicht werden. Es ist zu hoffen, dass er Kraft schöpfen kann, aus dem, was ihn in seinem Menschsein geprägt hat. Das ist ganz wesentlich auch seine Erfahrung als Trauernder. In seiner Art, versöhnlich, respektvoll, berührt und berührbar zu sprechen und auch öffentlich Tränen zuzulassen, zeigt sich ein Mensch, der das Leben in vielen Facetten von Glück und Leid kennengelernt hat und daran gewachsen ist. Er kennt jenen Schmerz, der nie mehr weggehen wird, aber mit dem er zu leben gelernt hat und aus dem er letztlich sogar Stärke nimmt. Vielleicht so wie es die holländische Trauerforscherin Ruthmarijke Smeding aus eigenen Trauererfahrungen kennt, wenn sie sagt: „Das Loch, in das ich fiel, wurde zur Quelle, aus der ich lebe.“

Eindrücklich beschreibt auch der amerikanische Rabbiner Harold Samuel Kushner in seinem Buch: „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“, wie ihn der Tod seines Sohnes tief erschüttert hat aber auch wachsen ließ: „Ich bin ein mitfühlender Mensch, ein Pfarrer mit mehr Ausstrahlung, ein besserer Ratgeber durch Aarons Leben und Tod geworden, als ich ohne ihn je hätte sein können. Ich gäbe alle diese Vorzüge aber in einer einzigen Sekunde wieder zurück, wenn ich meinen Sohn dafür zurückhaben könnte. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich alle geistige Größe und Tiefe, die mir durch meine Erfahrungen zuteil geworden ist, von mir werfen um nur das zu sein, was ich vor 15 Jahren war: ein durchschnittlicher Rabbiner, ein mittelmäßiger Ratgeber, der einigen helfen kann und anderen nicht und der Vater eines heiteren, glücklichen Jungen. Aber ich habe keine Wahl.“

Trauer und Lebensauftrag

Der Schmerz um einen toten Menschen kann uns innerlich zerbrechen oder wachsen lassen. Auf dieses Wachstum würde man gerne verzichten, wenn der geliebte Mensch wieder lebendig würde. Aber weil man keine Wahl hat, würdigen wir den geliebten Verstorbenen wenigstens, wenn wir das eigene Wachstum schätzen und dafür danken können. Das gibt dem Schmerz ein neues Gewicht, vielleicht auch einen Sinn, der weiterleben lässt.

Vielleicht hat Joe Biden es so beim Tod seiner Angehörigen, insbesondere beim Tod seines erwachsenen Sohnes, erfahren. Es wird gesagt, dass dieser ihn am Sterbebett gebeten habe, er solle noch einmal versuchen Präsident zu werden. Näheres dazu weiß man nicht, es gehört in die Intimität dieser letzten Begegnung. Aber es ist oft so, dass die Verstorbenen einen Lebensauftrag hinterlassen. Vielleicht gab es ein letztes Wort, das zum wegweisenden Leitstern wird. Oder es ist eine besondere Gabe, eine Eigenschaft, die man bei der oder dem geliebten Verstorbenen geschätzt hat, und die man plötzlich an sich selbst entdeckt. Uns an die Verstorbenen zu erinnern bedeutet, dass wir uns in unserem Innern mit ihnen verbinden und aus dieser Verbindung Kraft schöpfen können. Es geht dabei nicht darum, in Erinnerungen zu wühlen, sondern wie der Theologe Dietrich Bonhoeffer es sagt, sie wie „einen verborgenen Schatz“ zu besonderen Stunden und Gelegenheiten hervorzuholen und zu erfahren, wie „eine dauernde Freude und Kraft von dem Vergangenen“ ausgehen kann.

Dass Joe Biden mit 78 Jahren als Präsident seinen Lebensauftrag so annehmen kann, hat vermutlich auch etwas mit der Verwandlungskraft der Trauer zu tun. Die junge Lyrikerin Amanda Gorman hat zu seiner Amtseinführung mit ihrem Gedicht „Der Hügel auf den wir klettern“ diese tröstliche Erfahrung der ganzen Welt zugerufen: „Lasst uns der Welt diese Wahrheit sagen: Dass wir, selbst als wir trauerten, wuchsen / Dass wir, selbst als wir Schmerzen litten, hofften / Dass wir, selbst als wir ermüdeten, es weiter versucht haben.“

Dr. Angelika Daiker, Theologin, Germanistin
Von 2007 – 2017 leitete sie das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie auch konzeptionell aufgebaut hat. Ihr besonderer Blick galt immer der Begleitung Trauernder. A. Daiker ist Autorin vieler Bücher im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung.

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