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Die Gräber, das Laub und Tante Deddé

Das Leben war Mitte der 1960iger Jahre im Westen der Bundesrepublik Deutschland für einen gut zehnjährigen Jungen nicht wirklich aufregend. Ich hatte das „unbeschreibliche Glück“, wie mir mindestens einmal am Tag deutlich gesagt wurde, im freien Teil Deutschlands groß zu werden. Dankbar zu sein, nicht „drüben“ leben zu müssen, war selbstverständlich. Einmal im Jahr stellten wir, auch ganz selbstverständlich Kerzen ins Fenster, zum Gedenken an die „anderen Deutschen“ in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Alle paar Monate packten wir meist nicht allzu große Päckchen für die „lieben Brüder und die armen Schwestern“ hinter dem Eisernen Vorhang. „Ma wees jo werklich nett, ob dess driwwe a ankommt“, war die gängige Formulierung, die großzügige pfälzische Geste aus Kaffee, Schokolade und Nylonstrümpfen nett zu umschreiben.

Die Gräber, das Laub und Tante Deddé
Mit Tante Deddé ging es jede Woche zu den Friedhöfen, wo verstorbene Verwandte ruhen.
Das war alles irgendwie erträglich. Bis auf Tante Deddé. Einmal in der Woche stand sie pünktlich um halb drei vor der Haustür. „Fully equipped“, wie man heute sage würde: Eimerchen, Schäufelchen, einfach alles, was man so braucht, für den wöchentlichen Gang auf den örtlichen Friedhof. Tante Deddés „time slot“ war für mich nicht wirklich ungünstig. Die Hausaufgaben waren meist erledigt und der elterliche Faktencheck“ konnte entfallen, genauso wie das ungeliebte Aufsagen der Konjugation des Verbes „essen“. 

Tante Deddé hatte einen wöchentlich verbindlichen Projektplan. Grabpflege stand auf der To-do-Liste“. Eine Reißleine gab es nicht, der Ablauf war nicht wirklich flexibel und am Ende des Tages war der Plan immer derselbe: drei Friedhöfe und fünf Gräber in zwei Stunden. Projektleitung: Tante Deddé. Umsetzung als Depp vom Dienst: ich.
Das Grab von Onkel Arthur war die erste Station: tiefschwarzer Naturstein, Inschrift „Römische Antiqua“, vertieft gemeißelt und mit Gold perfekt gehöht. „1944 in Russland vermisst“, stand in großen Lettern auf der glänzend polierten Steinfläche. „SS-Y“ nannte mein Steinmetz-Vater den aus Schweden stammenden Schwarz-Schwedischen Syenit. SS – ein wirklich passender Name für den Naturstein vom Grabstein eines Menschen, den ich nicht kannte und dessen – wohl eher unrühmliche Vergangenheit – mir damals unbekannt war. Bekannt war mir nur der Auftrag: jedes verwelkte Laubblatt einzeln entfernen. Ein einfaches Zusammenrechen der Blätter war tabu, viel zu viel Risiko für jedes der einzelnen, bunten Primelchen. Laubbläser, für deren baumarkttaugliche und damit nervtötende Serienreife, sich Tüftler im schwäbischen Metzingen noch über 20 Jahre Zeit ließen, waren zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Egal, die Blätter waren sorgfältig entfernt, das Grab des ehemaligen Waffen-SS-Offiziers war so blitzblank, wie seine angeblich weiße Weste.
Weiter ging es ans Grab meines Opas. „The same procedure as every week.“ Das lautlose und schadenfreie Entfernen der, die das Ensemble der Bundesgartenschau ähnlichen Bepflanzung der Grabfläche störenden, unansehnlichen Blätter auf dem Boden war meine Aufgabe. Die Interaktion mit den anderen Besuchern des städtischen Hauptfriedhofs war Tante Deddés vorrangiges To-do.
Die Inschrift auf der Grabtafel meines Großvaters war aus Metall-Buchstaben aufgedübelt (Bronze von der Kunstgießerei „Plein“ – wie ich später erfahren sollte). Auch hier fand sich eine, für mich jedenfalls eher befremdliche Beschreibung seines Sterbedatums: „Gestorben am 14. März 1945 durch die Bomben der Alliierten“. Mein Vater und meine Oma erlebten das Ende des Zweiten Weltkrieges beim Bauern Niedermeier in Niederbayern. Meine Heimatstadt Zweibrücken war damals komplett evakuiert. Das hatte man mir oft genug erzählt. Warum war mein Opa in der Pfalz?
Warum wurde er noch kurz noch vor dem Ende des Krieges zum Ehrenbürger der Stadt Zweibrücken ernannt? Und vor allem: Warum wollte mein Vater davon später nichts wissen? Damals verstand ich das nicht. „Er war halt bei der Polizei.“ Ein Steinmetzmeister bei der Polizei? „Das musste er.“, hieß es. „Nein! In der Partei war er nicht.“, wurde stets betont. Als Unternehmer musste er sich halt arrangieren – damals, in der schlechten Zeit – war eine weitere Antwort. Dass mein Opa in den 1930er und 1940er Jahren mit seinen Steinmetzen und Steinhauern Kasernen für die Wehrmacht in der ganzen Gegend gebaut hatte, das erfuhr ich erst viele Jahre später, als ich für die Tageszeitung „Die Rheinpfalz“ einen Beitrag zur Wehrmachtsarchitektur in der Pfalz recherchierte.
Egal, die Blätter mussten weg, nichts durfte den schönen Schein des perfekt gepflegten Beisetzungsortes stören. Es ging weiter zu einem Vorortfriedhof. Ziel war das Grab von „Tante Minna“ und „Onkel Guschtl“. Beide starben schon Anfang der 1960er Jahre. Wirklich Spannendes konnte ich auf den Inschriften des eher schlichten Steins auf den ersten Blick nicht entnehmen. Komisch nur, dass die Minna „Buchmann“ hieß und der Guschtl „Freitag“. Sie lebten zusammen, das wusste ich sicher, weil sie im gleichen Haus wohnten wie meine Eltern und ich. Waren die nie verheiratet? „Willische, dess muss Dich doch noch gar net interessiere“, war die stets gleiche Antwort. Hauptsache, die Blätter kommen vom Grab. Alles muss schön sauber sein, die Politur des Steins muss glänzen und überhaupt: Dreck, den man nicht sieht, ist sauber.
Jetzt blieb nur noch das Grab in Ernstweiler, eine halbe Stunde Fußmarsch oder, wenn wir Glück hatten und Tante Deddé nicht zu sehr mit ihren kommunikativen Pflichten beschäftigt war, eine kurze Fahrt mit dem Stadtbus. Ein Grab mit wirklich keinerlei Auffälligkeiten, außer dem Namen einer sehr jung verstorbenen Hanna, die in der Familie nie erwähnt wurde und von der ich bis heute nicht weiß, wer sie war. Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Seit vielen Jahren war ich nicht mehr auf dem Friedhof in „Ernschtswiller“. Eine Frage bleibt: wer war Hanna?
„Willische, jetzt ham merrs.“ Die Betonung lag immer auf dem „merrs“, deutsch für wir. „Aver werklich geschafft!“ Tante Deddé läutete mit der immer gleichen Ansage den letzten und wirklich schlimmen Teil dieser wöchentlich, einem Ritual ähnlichen Veranstaltung, ein. „Jetzt gemma aver Kaffee tringe ins Café Enkler“. Das Problem dieses Satzes war die Ortsangabe „ins Café Enkler“, damals der Hotspot der „Zweebrigger Szene“. Dort saßen im hinteren Teil die aus der Oberstufe mit den damals schon eher langen Haaren und den Hosen ohne blöde Bügelfalten. Hinten diskutierten sie über die „Amis in Vietnam“, den Kiesinger oder den Filbinger, die eigentlich doch alles Nazis waren und natürlich über den „Willi, der endlich mehr Demokratie“ wagen wollte. Vorne saß „de klene Willy“ mit kurzer „Fasson-Frisur“, perfekt gebügelten Hosen aus kackfarbenem Stoff. Des Willische wurde mit heißer Schokolade bewirtet und dafür gelobt, dass es die Blätter so schön von den Gräbern entfernt und alles blitzblank poliert hatte. Merke: Kinder und Frauen sind in der Hinterpfalz und im angrenzenden Saarland ein Neutrum. Noch heute nennen sie dort Frau Kramp-Karrenbauer „ess Annegret“. „So heest ees halt!“ Hauptsache die Gräber sind sauber und kein Blatt stört die Ruhe der Toten.
Vielleicht sind es Geschichten wie diese, die mir die sauberen Gräber mit ihren polierten Steinen so zweideutig erscheinen lassen. Gräber, die von jeder sichtbaren und unsichtbaren Geschichte befreit in Reih und Glied ein immaterielles Kulturgut sein wollen und doch nur ein kleiner Garten verdrängter Wahrheiten und ein großer Spiegel ganz persönlicher Eitelkeiten sind.
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