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Können Fotos Trost spenden?

Als Fotografin und Kinderkrankenschwester fotografiert Evelyn Werner das Leben, das Sterben und auch den Tod. Nach ihrer Überzeugung kann es bei der Trauerbewältigung helfen, Erinnerungen aus allen Lebensphasen festzuhalten.

Können Fotos Trost spenden?

© Evelyn Werner

„Macht die „richtigen“ Schritte für Euch zur richtigen Zeit“

Als ich Benjamin (5), seine Schwester Milena (11) und seine Eltern Cindy und Thomas im Kinderhospiz kennenlerne, geht es ihm relativ gut. Die Eltern wünschen sich ein Familien-Fotoshooting. Für Familien mit einem schwer erkrankten Kind ist ein Fototermin in einem Fotostudio oft undenkbar. Die Kinder haben besondere Bedürfnisse, können sich nicht an feste Zeitfenster anpassen und der Weg dorthin sowie die fremde Umgebung sind Stressfaktoren. Deshalb komme ich mit meiner Fotoausrüstung dorthin, wo Menschen ihre Wohlfühlumgebung haben.

Mein Flyer gab nach unserem Termin den Eltern Anlass, darüber ins Gespräch zu kommen, was ihnen wichtig ist: Fotos am Ende des Lebens, diese kostbaren Momente festhalten.

© Evelyn Werner

Unbeschreibliche Dinge sichtbar machen

Nach Benjamins Tod haben wir uns viel Zeit genommen für Fotos: Detailaufnahmen der kleinen Füße, die Plüsch-Schuhe, seine Hände, seine Spielzeuge, im Arm der Mutter, auf dem Schoß der Schwester, getragen von Papas Armen… Milena waren die brennenden Kerzen wichtig und Details im Abschiedsraum des Kinderhospizes. Für Thomas sollten die seit langem bekannten Pflegekräfte mit Benjamin auf dem Schoss auf die Fotos.

Die letzte Lebensstunden seines Sohnes hat er in unzählige Handyfotos festgehalten. Das war für Cindy extrem wichtig – und für Thomas eine Aufgabe.

In den Tagen danach hat die Familie gemeinsam den Sarg bemalt und bei der „Aussegnung“ (Aufbahrung und Verabschiedung vor der Überführung ins Bestattungsinstitut) war ich auch mit der Kamera dabei. So war es ihr ausdrücklicher Wunsch. Jeder Moment sollte für die Erinnerung festgehalten werden. Die Familie in ihrer Trauer, Benni im offenen Sarg aufgebahrt, seine Verabschiedung, der schwere Gang zum Bestattungswagen, getragen von seinen Eltern, begleitet von Seifenblasen und Mitarbeiter:innen des Kinderhospizes.

„Wir wussten, dass wir die Erkrankung nicht aufhalten können.“

Etwas mehr als 2 Jahre später treffe ich Cindy, Thomas und Milena in ihrem neuen Zuhause zu einem Interview. Wie auch in der alten Wohnung hängen und stehen in jedem Zimmer Fotos von der Familie, viele von Benjamin.

Das erste Heimkommen nach Bennis Tod war für alle sehr schwer. Alle fühlten sich allein, obwohl sie einander hatten.

„Gefühlt stand ich neben mir“ erinnert sich Thomas. Er nahm instinktiv zunächst eine beschützende Rolle für die Familie ein. Nach vier Wochen ist er wieder arbeiten gegangen. Heute würde er anders entscheiden. Im Alltag ist es noch schwerer, seine Gefühle zuzulassen. Seine Frau hat ihm immer „den Weg bereitet“ und er ist ihn vertrauensvoll mitgegangen. Dafür ist er sehr dankbar. Hätte er allein entscheiden müssen, wäre er viele Schritte nicht gegangen (Palliativteam, Fotos, Kinderhospiz).

Auch für Milena waren die ersten Wochen nach dem Tod ihres Bruders sehr schwer. Ihre Eltern haben oft geweint und saßen zu Hause. „Das hat mich erdrückt.“ Nach drei Wochen ist sie wieder zur Schule gegangen. Neue Hobbies, wie Reiten und Fußball sind dazu gekommen, sind hilfreiche Ablenkung. „Seitdem geht’s mir eigentlich wieder gut.“ „Manchmal bin ich natürlich noch traurig“, fügt sie dann direkt hinzu. Wenn sie die Traurigkeit (oft abends im Bett) überkommt, hilft ihr ein Kissen mit einem Foto von Bennis Gesicht drauf. „Das kann ich dann umarmen.“ Außerdem hat sie einen Kuschelhasen, der aus Kleidung ihres Bruders genäht wurde.

© Evelyn Werner

Ein Schulpraktikum hat sie nach Benjamins Tod im Kinderhospiz gemacht. Ihr Umgang mit Themen, die Gleichaltrige oft nie kennenlernen, ist für sie fast selbstverständlich. Die Reaktionen darauf sind immer noch schwierige Konfrontationen mit einer Realität, die für sie anders ist als für Kinder ohne Verlusterfahrung.

Ein Regal mit Fotos und Erinnerungsstücken steht in ihrem Zimmer – auch ein Foto, auf dem sie ihren verstorbenen Bruder im Arm hält. „Manchmal hab ich Angst, ich vergesse Benjamin, dafür helfen Fotos gut.“

© Evelyn Werner

Als ihr Bruder starb, war sie dabei. So war es ihr Wunsch. „Das war schon schlimm. Im ersten Moment dachte ich, ich kriege keine Luft mehr.“

Cindy sagt: „Für unsere Familie war Benni die Sonne in unserem System, um die sich alles gedreht hat und die war einfach weg. Mit ihm ist auch ein Stück von mir gegangen.“

Alle drei sind unterschiedliche Wege durch die Trauer gegangen. Für Cindy war ein Jobwechsel elementar, therapeutische Hilfe und letztlich sogar ein Umzug. Für Milena waren neue Hobbies und gelebter Alltag in der Schule hilfreich und Menschen im Umfeld, die „Bescheid wussten“. Und Thomas hat viel mit sich selbst ausgemacht, ist zurück in einen vertrauten Arbeitsalltag geflüchtet, findet das jedoch rückblickend nicht sinnvoll.

Gibt es nach dem Verlust eines Kindes Trost?

Ja, es gibt Trost. Cindy findet z. B. Trost in Benjamins Garten (ihre Bezeichnung für seine Grabstelle) und „das Wissen darum, den haben wir gemeinsam für ihn ausgesucht“. Außerdem der Garten der Erinnerungen im Kinderhospiz. „Das ist ein Ort, wo man etwas anfassen kann und was man sehen kann, nicht nur, was man bei sich trägt. Die Laterne, die ich berühren kann und sofort eine Verbindung zu diesen Momenten habe.“

Auch Cindy hat ein Kissen mit einem Foto von Benjamin drauf. Beide Eltern haben aus Kleidung, die sie am Tag von Benjamins Tod trugen, sowie aus Benjamins Kleidung Kuscheltiere für sich nähen lassen. „Das zu haben spendet Trost und schafft Verbindung.“

Beide Eltern haben sich ein Tattoo stechen lassen. „Den Schmerz, den man die ganze Zeit spürt… mal in körperlichen Schmerz umzuwandeln, das hat wirklich gut getan.“

Und ganz klar spenden Fotos und Videos Trost. Sie helfen, sich in Situationen wieder hinein leben zu können und ihr Kind bei sich zu behalten.

© Evelyn Werner

In ihrem Zimmer hat Cindy sich einen Bereich geschaffen mit vielen Fotos und Erinnerungsstücken. „Benjamin soll in jedem Raum der Wohnung seine Präsenz haben, genauso, wie das auch in unserem gemeinsamen Zuhause war.“

(Je)den Moment festhalten

Cindy sagt „Wir haben viele Fotos in vielen Situationen auch selber gemacht. Aber wie Du die Momente eingefangen hast zu einer Zeit, die schon anfing, sehr besonders zu sein, das ist für uns unbezahlbar und unglaublich wertvoll. Die Fotos sind so echt und ehrlich, da ist nichts gestellt. Sie sind wie ein Ausschnitt aus dem Leben. Da stecken so viele Emotionen drin, diese Liebe, die wir füreinander haben die ist aus diesen Bildern zu erkennen, die ist zu sehen, die kann jeder spüren, der daran vorbeigeht.“

„Ich hatte so große Angst davor, irgendwas zu vergessen und ich kann jetzt sagen, das wovor ich Angst hatte, dass es eine Zeit geben wird, wo Deine Trauer Deinem Kopf einen Streich spielt und wo Du auf einmal nur noch Fotos oder Momente vor Dir siehst, die traurig sind. Dann kannst Du Dir die Fotos anschauen und kannst sehen, dass Dein Sohn in diesem Moment glücklich, selig und zufrieden war. Dass für ihn in diesem Moment einfach alles in Ordnung war und genau richtig. Dieser Moment ist wie eine Hochzeit oder die Geburt. Es geht alles so unglaublich schnell. Man hat nicht die Zeit, diese Momente als Bilder so schnell in seinem Kopf abzuspeichern. Da geht so viel verloren. Und Du hast so viele Details festgehalten, die für uns so wichtig sind: ob es die Schmetterlinge an der Decke oder der Engel auf dem Kühlbett war. Das sind alles Dinge, die einem dabei helfen, sich in den Moment reinzufühlen und immer wieder zu merken, wie schön es trotz allem auch in diesem Moment war, weil einfach alles stimmte.“

Wenn Cindy z. B. Angst bekommt, etwas vergessen zu haben, was sie mit in den Sarg legen wollte, schaut sie sich die Fotos an und beruhigt sich.

© Evelyn Werner

Auch für Thomas sind die Fotos wahnsinnig wertvoll. Er schaut sich am liebsten die „lebendigen“ Bilder seines Sohnes an. Aber auch die Fotos nach Benjamins Tod sind wichtig. „…weil sie das so fühlbar machen in dem Moment, vor allem, wenn man Milena und Benjamin zusammen sieht, wie die beiden da zusammen sitzen, was sie ja nie konnten. Dass Milena auch die Chance hatte und wir selber als Familie auch nochmal so einen ganz intimen Moment hatten…, das ist schon schön.“

Benjamins Eltern haben sich auf alles schon frühzeitig gut vorbereitet. Bereuen sie etwas? „Ich hätte mich früher damit beschäftigen wollen, dass es so Menschen gibt wie Dich“, sagt Cindy.  Dann hätte die Familie sich schon von einem viel früheren Zeitpunkt an fotografisch begleiten lassen. Sie wünschen sich für andere Eltern, diese Themen mehr in die Gesellschaft zu bringen und Menschen, die es weitertragen.

Alle drei sind sich einig, was sie anderen Familien raten wollen: „Genießt die gemeinsame Zeit. Schaut nicht nur auf die Krankheit, sondern wie schön das Leben ist; redet mit Freunden, sucht Euch Hilfe und schafft Erinnerungen.“

© Evelyn Werner

Autorin: Evelyn Werner ist von der Kinderkrankenpflege in die Fotografie gekommen. Sie ist Fotografin für Momente, die ein Leben prägen. Für die ersten und letzten Fotos – und die Augenblicke zwischendrin.
Instagram:
https://www.instagram.com/ev.werner/
Facebook:
https://www.facebook.com/fotografieevelynwerner

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