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Ins Sterben einwilligen?

Vermutlich gibt es keine andere Wahrheit, die so bekannt und gleichzeitig so wenig im aktiven Bewusstsein ist, wie die Tatsache, dass wir sterblich sind. Wir wissen es, aber wer will sich in gesunden Tagen damit auseinandersetzen? Und wenn es so weit ist, wollen wir es nicht wahrhaben.

Ins Sterben einwilligen?
ILLUSIONEN „Frau vor den Spiegel“…übrigens: Männer sind auch sterblich
Der Tod ist ein großes Geheimnis, das wir nicht zu fassen bekommen und das fremd und bedrohlich bleibt. Er gehört zu unserem Dasein und klopft, früher oder später, an jede Lebenstür und will eingelassen werden. Er tritt ein, ob er willkommen geheißen wird oder ob man versucht ihn wegzuschicken.

Doch ist das überhaupt möglich, den Tod willkommen zu heißen und einzuwilligen? Bei alten Menschen im Hospiz habe ich es erlebt, dass sie bereit sind zu sterben, ja manchmal sogar ungeduldig auf den Tod warten. Aber meistens wehren sich Menschen, auch alte, wenn sie eine lebensbedrohliche Diagnose bekommen. Sie wollen leben, insbesondere, wenn sie noch jung sind, vielleicht kleine Kinder haben und von einer schweren Krankheit überrascht werden. Und wann fängt das Sterben überhaupt an? Auch schwerkrank haben Menschen am Leben noch Anteil und fühlen sich lebendig. Wann können wir sagen, dass einer „sterbend“ ist? Eine Zuschreibung, die oft von außen kommt.

Mit einer schweren Krankheit stirbt ein Mensch nicht auf einmal, Sterben kann ein langer und mühsamer Prozess sein. Sterben ist immer noch leben. Und was zuletzt stirbt, ist auf jeden Fall die Hoffnung, dass es doch noch eine Genesung, ja vielleicht ein Wunder gibt. Oder wenigstens noch einen weiteren Tag, einen weiteren Monat… Diese Hoffnung ist für manche die größere Wahrheit als die ärztliche Diagnose, die eine nur noch überschaubare Lebensdauer ankündigt.

Die Tatsache, dass wir sterblich sind

In 30 Jahren Hospizengagement habe ich viel Erfahrung über das Sterben gesammelt und bin doch Lernende geblieben. Und wenn der Tod sich in den eigenen Freundes- oder Familienkreis schleichen will, kommt mein ganzes Wissen immer auf den Prüfstand und wird nicht selten brüchig. So in der Begleitung eines sehr engen Freundes, der durch eine schwere Krebsdiagnose plötzlich aus einem aktiven Leben hinauskatapultiert wurde. Die Diagnose Gallengangkrebs mit Metastasen im Bauchraum war geradezu ein Todesurteil. Alle Freunde aus der Hospiz- und Palliativszene sagen: Damit hat man wenig Chancen. Der erkrankte Freund will das so nicht wissen. Seine Wahrheit ist eine andere: Er will um sein Leben kämpfen und glaubt, dass er es mit guter ärztlicher Therapie schaffen wird. Zwei Wahrheiten stehen bei schweren Erkrankungen häufig nebeneinander: „Gegen diese Krankheit hat man keine Chance.“ und „Ich schaffe das.“ Dann stehen zwei Therapiewege (oder auch noch mehr) nebeneinander: Bei Krebserkrankungen die maximale Chemotherapie, um den Tumor möglichst hart zu bekämpfen. Oder eine ummantelnde palliative Therapie, die mit einer guten Symptomkontrolle für eine begrenzte Zeit ein Maximum an Lebensqualität ermöglicht. Kurativ versus palliativ! Der Freund hat sich für die Chemotherapie entschieden, die er nicht gut verkraftet. Jeder Millimeter, den der Tumor kleiner wird, gibt ihm die Kraft, die Begleiterscheinungen der Chemo auszuhalten.

Genieße jeden Tag

Die Hospizfrau in mir würde ihm gerne sagen: Beende endlich die Chemo. Genieße jeden Tag die Lebensqualität, die dir die palliative Therapie schenkt. Genieße was jetzt möglich ist und vergleiche es nicht mit deinen gesunden Tagen. Doch das ist meine Sicht und meine Wahrheit. Das ist auch mein hospizerfahrener Blick. Seine Wahrheit ist eine andere. Und weil es sein Leben ist, ist seine Wahrheit die vorrangige. Er hat sich für die Hoffnung auf Heilung und damit für die Chemotherapie entschieden. Ich würde die palliative Begleitung favorisieren, um ihm die Lebenskraft, die er jetzt noch hat, möglichst lange, ummantelnd, schützend zu erhalten.

Leider hat das Wort palliativ für viele den Beigeschmack von Aussichtslosigkeit und Tod. Für ihn ist es das resignative Konzept, wenn es keine Chance mehr auf Heilung gibt. Dabei ist Palliative Care ein hoch differenzierter Behandlungsansatz, der sich durch ein multiprofessionelles Team auszeichnet und eine große Bandbreite von Betreuung, Pflege und menschlicher Fürsorge umfasst. Palliative Care nimmt den Menschen ganzheitlich in den Blick, nicht nur physisch mit seinen medizinischen und pflegerischen Bedürfnissen, sondern auch mit dem, was ihn psychisch, spirituell oder im Blick auf sein soziales Leben bewegt. Kaum ein anderer Bereich des Gesundheitssystems hat eine derart rasante Entwicklung und Wertschätzung erlebt wie die Palliativ- und Hospizversorgung.

Irgendwann war es für den Freund möglich, auf beiden Gleisen zu fahren. Kurativ und palliativ standen nicht mehr gegeneinander. Er versuchte mit einer dosierten Chemotherapie weiterzumachen und daneben eine hochkompetente spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) zuzulassen, die zu Hause, Schmerzen, Übelkeit und sonstige Symptome etc. zu lindern vermochte.
Meine Hospiz-Expertise versuche ich der persönlichen Lebensexpertise des Freundes unterzuordnen, denn zu den Kernanliegen der Hospizarbeit gehört, als Begleitende im Hintergrund zu bleiben und nur jenes Orchester zu bilden, das dem Soloinstrument des Schwerkranken den Klangraum zu seiner letzten Entfaltung bietet. Am Lebensende sind wir immer Solisten.

Das Leben jedes Menschen ist einmalig und individuell.

Sein Sterben auch.

Es muss zu dem passen, was ihn ein Leben lang ausgemacht hat. Der Freund ist eine starke Persönlichkeit. Er hat ein Leben lang den Ton angegeben. Ins Sterben einzuwilligen, solange er noch Hoffnung auf Leben hat, würde für ihn nicht passen. Den Schritt, dem eigenen Sterben zuzustimmen, muss jeder für sich selbst gehen, auch wenn wir wissen, dass ein bewusstes Abschiednehmen für die Zugehörigen hilfreich ist auf ihrem späteren Trauerweg. Doch ein Trost ist es auch zu wissen, dass jemand so gestorben ist, wie es zu seinem ganzen Leben passt. Jeder darf seine eigene Wahrheit finden.

Heute formulieren viele den Wunsch, in Würde zu sterben und im Wesentlichen drückt sich darin der Wunsch aus, dass es kein fremdbestimmtes Sterben sein soll. In seinem Gedichtzyklus „Das Stundenbuch“ formulierte der Dichter Rainer Maria Rilke diesen Wunsch als Gebet: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.“ Der eigene Tod könnte alles, was den Menschen ausgemacht hat, noch einmal zum Vorschein und zum Leuchten bringen. Also kein Abbruch dessen, was gelebt wurde, sondern seine Vollendung, ein Ausreifen des eigenen Lebens oder wie Rilke es im Anschluss an seinen Wunsch schreibt: „Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“ In dieser Haltung könnte auch das Einwilligen möglich sein ­– sind auch erstaunliche und unerwartete Entwicklungen möglich.

 

Dr. Angelika Daiker, Theologin, Germanistin
Von 2007 – 2017 leitete sie das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie auch konzeptionell aufgebaut hat.
Ihr besonderer Blick galt immer der Begleitung Trauernder. A. Daiker ist Autorin vieler Bücher im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung.

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