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Die Stadt der Toten

Der Friedhof von Havanna beeindruckt durch die weiße Marmorpracht der Tausenden von Grabstätten, Mausoleen und Tempel, durch Madonnen und Gekreuzigte. Die Nekropole Cristóbal Colón gilt als eine der schönsten Ruhestätten der Welt. Gleichzeitig ist sie ein lebendiger Pilgerort – denn was wäre Kuba ohne WUNDER?

Die Stadt der Toten

© Ulrike_Prinz

Wer das Tor zum Friedhof Colón durchschreitet, taucht ein in eine andere Welt. Sie steht im Widerspruch zu dieser brodelnden, lebendigen Metropole Havanna, die in ihrer kolonialen Schönheit vor sich hin bröckelt und wo in manchen Straßenzügen aus halb zerfallenen Häusern Bäume wachsen. Wer also diese Schwelle übertritt, befindet sich augenblicklich in einem Reich des Lichtes, der Ruhe und in einem zu Marmor gewordenen Traum vom ewigen Leben – in einer Stadt der Toten, die deutlich besser in Schuss ist, als die der Lebenden.

Der bleiche Tod tritt in die Hütten der Armen – und in die Paläste der Könige gleichermaßen.

Der städtebauliche Entwurf der Nekropole stammt vom galizischen Architekten Calixto de Loira. Sein Motto lautete: „Der bleiche Tod tritt in die Hütten der Armen und in die Paläste der Könige gleichermaßen.“ Sein Entwurf war inspiriert durch die quadratförmigen Stadterweiterungen von Barcelona und Paris. Die Umsetzung des großen Plans begann 1871 und wurde am 2. Juli 1886 abgeschlossen.

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Um mich auf dem 56 Hektar großen „Gottesacker“ mit seinen Haupt- und Nebenstraßen zurecht zu finden, brauche ich einen Stadtplan. Ich erwerbe ihn gleich hinter dem sogenannten Friedenstor, das von den drei überdimensionalen theologischen Tugenden GLAUBE – LIEBE – HOFFNUNG geziert wird. Die Fassade wurde von de Loira entworfen, während die Skulpturen von José Vilalta de Saavedra (1862-1912) stammen. Er war einer der ersten kubanischen Bildhauer, die sich hier verwirklichen durften. Von afro-amerikaner Herkunft konnte Saavedra Dank privater Mäzene in Europa studieren und lebte in Italien.

Auf dem Friedhof Colón sind über eine Million Menschen bestattet. Die Großbürger der Republik erbauten sich hier ihre pompösen Marmor-Mausoleen und zum Teil maßstabsgetreue Nachbildungen ihrer kolonialen Herrenhäuser. Über 340 Grabkapellen, Bögen, Kuppeln und Glasfenster erinnern und verklären die Verstorbenen.

© Ulrike_Prinz

 

Ein imposantes Denkmal überragt die umliegenden hohen Palmen und zieht sofort meine Blicke auf sich. Es ist das Werk der des Architekten Julio Martínez Zapata und des Bildhauers Agustín Querol Subirats und ist ein kollektives Pantheon für die Opfer einer Katastrophe. Der Engel des Glaubens, mit einer Augenbinde, hält einen toten Feuerwehrmann in seinen Armen, während er seine linke Hand zum Himmel erhebt.
Das Denkmal erinnert an ein Desaster, das sich Ende des 19. Jahrhunderts in Havannas Altstadt ereignet hatte. Bei einem Großbrand kamen 25 Feuerwehrmänner ums Leben. Der Bildhauer meißelte ihre Porträts in Marmor-Medaillons, die das Pantheon säumen. Weil das Gesicht eines Feuerwehrmannes fehlte, setzte Querol sein eigenes Konterfei ein, was von manchen als makabrer Scherz verstanden wird.

Unabhängigkeit, Revolution – und die Liebe

Wie jeder Friedhof erzählt auch Colón die wechselvolle Geschichte des Landes – vom 19.Jahrhundert an bis heute: Er erzählt von Unabhängigkeit, Revolution – und von der Liebe. Die erste Person, die noch vor der offiziellen Eröffnung hier bestattet wurde, hieß Maria Balido und war eine afrikanische Sklavin. Alle liegen sie hier: Sklaven und Sklavenhändler, Zuckerbarone und Unabhängigkeitskämpfer. Obwohl zwei Drittel des Friedhofes von der Oberschicht „belegt“ ist. Zwar war die Sklaverei ab 1817 verboten, doch die Verschleppung der Afrikaner nach Kuba ging weiter. Erst 1898, als die Spanier nach dem verlorenen Krieg aus Kuba abzogen, wurden die Sklaven „befreit“. Viele von ihnen hatten für die Unabhängigkeit Kubas gekämpft. Doch auch danach schufteten sie für einen schmalen Lohn auf den Plantagen der Zuckerbarone. Von der Gleichheit im Tode weit entfernt wurden bis ins Jahr 1924 Afrokubaner und Mestizen noch in einem getrennten Totenregister geführt.

Auch der berühmte kubanische Fotograf Alberto Korda, mit bürgerlichem Namen Alberto Díaz Gutiérrez, dessen Bilder die Revolutionäre Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara zu Ikonen machte, hat hier seine letzte Ruhe gefunden. Neben Litertaten, wie Alejo Carpentier und José Lezama Lima und dem dritten Schachweltmeister José Raúl Capablanca findet man auch die Gräber zwei unvergessener kubanischer Musiker: den Pianisten Rubén González und den Sänger Ibrahim Ferrér, die 1996 durch das Phänomen Buena Vista Social Club aus der Vergessenheit zu Weltruhm gelangten.

Doch das berühmteste Grab der Nekropole gehört keinem Revolutionär und keinem Großbürger oder Baron. Es ist das Grab von Amelia Goyri de la Hoz, sie wird auch „La Milagrosa“ genannt.

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Ich finde die „Jungfrau der Wunder“ schnell, denn es ist bereits von Pilger*innen umlagert. Amelias tragisches Leben gleicht dem eines Romans: Sie liebt José Vincente Adot Rabell, Oberst der Befreiungsarmee, und er liebt sie. Doch können sie nicht zusammenkommen, da er von niedrigerem Rang war als sie. Das Paar musste also den Tod von Amelias Vater abwarten, bis sie endlich heiraten durften. Ihr Glück war von kurzer Dauer. Amelia wird schwanger, doch Mutter und Kind sterben im achten Schwangerschaftsmonat, am 3. Mai 1901, vermutlich an einem Krampfanfall.

Standesgemäß soll Amelia im Pantheon der Marquise von Balboa begraben werden, aber José Vicente erlaubt das nicht. Er lässt ihre sterblichen Überreste in der Gruft beilegen, die ihm ein Freund überlassen hat, auf dem Feld Nummer 28 der Nekropole von Colón. Bei Saavedra gibt er eine Statue für seine Geliebte in Auftrag. Doch der untröstliche Ehemann kann den plötzlichen Tod seiner Geliebten nicht akzeptieren. Jeden Tag besucht er ihr Grab, klopft mit dem Messingring auf die Marmorplatte und ruft:

„Amelia, wach auf!“ Dann spricht er mit ihr und wenn er sich zurückzieht, so dreht er ihr dabei nie den Rücken zu. 40 Jahre lang wird er dieses Ritual vollziehen, jeden Tag, bis zu seinem eigenen Tod.

1909 wird Saavedras Statue aufgestellt, welche Amelia mit ihrem Baby im Arm zeigt und als fünf Jahre später der Vater von José Vincente Adot Rabell verstirbt, öffnet man Amelias Grab. Der Legende nach sieht der Ehemann, dass ihr Leib intakt ist und keine Spuren von Verwesung zeigt und das Baby, das zu ihren Füßen bestattet worden war, befand sich nun in ihrem Arm – genau so, wie es sich der Bildhauer vorgestellt hatte. Ein Wunder war geschehen! Das Gerücht verbreitet sich in wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt.

Von da an strömen viele Frauen zum Grab, klopfen mit dem Messingring – genauso wie Vicente – um Amelia aufzuwecken und sie um Hilfe zu bitten. Die Gläubigen übersäen das Grab der „Jungfrau der Wunder“ mit Blumen. Vicente gefällt das nicht und er lässt ein Schild anbringen: „Blumen ablegen verboten“. Doch es hilft nichts, die Blumen treffen weiterhin ein – bis heute. Neben ihrem Grab sehe ich eine weitere Marmorplatte bestückt mit Dankesschildern der Gläubigen, für die Ewigkeit in Marmor gemeißelt. Es ist nur eine kleine Auswahl, der Rest wird im Stadtmuseum verwahrt. Die Geschichte von Amelia und Vicente ist eine romantische Liebesgeschichte, die den Tod besiegt. Und viele kubanischen Mädchen tragen auch heute noch Amelias Namen.

© Ulrike_Prinz

 

Amelia – „La Milagrosa“ – wird verehrt wie eine Heilige, obwohl die katholische Kirche sie weder selig, noch heiliggesprochen hat. Warum sie noch nicht seliggesprochen wurde? „Weil sie den Kubanern gehört“, so die Missionarin und Historikerin Maria Antonia Ruiz Guzmán. „Das ist ein spontaner Kult, das geht durch keine Institution, sie ist so grün wie diese Palme, sie gehört uns, sie ist Kubanerin. Sie ist unsere Volksheilige“, bekräftigt Antonia Ruiz.

Tatsächlich liegt Amelias Charme gerade in der fehlenden Seligsprechung. Und ohne die „Jungfrau der Wunder“ mit ihrem Ritual wäre die Nekropole Colón kein echter kubanischer Friedhof.

Dr. Ulrike Prinz, Ethnologin

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