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Dabei haben sich diese Feste aufgrund verschiedener Bedürfnisse tradiert: Wenn die ersten Blätter fallen und die Natur sich zur Ruhe legt, wächst auch in uns der Wunsch, sich mit der Endlichkeit und den Menschen, die wir verloren haben, zu beschäftigen. Der Herbst ist der Vorbote des Winters – einer Zeit des Rückzugs. Vorher wollen wir uns noch einmal der Gemeinschaft versichern, in der wir leben – einer Gemeinschaft der Lebenden und der Verstorbenen. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit sehnen wir uns außerdem nach Wärme – auch etwas, das Gemeinschaft uns vermitteln kann. Diese Bedürfnisse manifestieren sich in den verschiedenen Traditionen rund um den ersten November. Die Menschen kommen zusammen, um sich der Verstorbenen zu erinnern. Ihnen entzünden sie wärmespendende Lichter und beim gemeinsamen Kaffeetrinken oder verspeisen einer Mahlzeit können wir Erinnerungen teilen und uns der Gemeinschaft, in der wir leben, bewusst werden und rückversichern. Zusätzlich verbindet uns das gemeinsame Essen und Trinken mit dem Leben.
Das kann sich auch positiv auf den Trauerprozess auswirken. Trauer als Teil einer gelebten Kultur mit sinnstiftenden Ritualen zu erleben kann Halt in einer Zeit der Unsicherheit geben. Durch das Erleben von Gemeinschaft wird die entstandene Lücke vielleicht auch etwas kleiner.
Gerade in ländlichen Gegenden strömen an Allerheilgen sehr viele Menschen auf die Friedhöfe und besuchen die dazugehörigen Gottesdienste, bevor sich die Familien zusammensetzen. Auch in städtischen Regionen ist die Frequentierung der Friedhöfe rund um Allerheilgien deutlicher höher als zu anderen Jahreszeiten, auch wenn die Besuchszahlen der Gottesdienste deutlich sinken. Und sicher nutzen nach wie vor viele Menschen Allerheiligen als Anlass für ein Familientreffen. Trotzdem gibt es gleichzeitig Menschen, die Allerheiligen keine Bedeutung mehr beimessen. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Allerheiligen zu den christlichen Festen gehört, und sich immer mehr Menschen von der Kirche abwenden. Doch während Allerheiligen in der Gesellschaft langsam an Bedeutung zu verlieren scheint, weil sich die damit verbundenen Rituale für viele nicht mehr zeitgemäß anfühlen, stellen Halloween und der Día de los muertos beliebte Feieranlässe dar. Statt zu einer gelebten Trauer- und Erinnerungskultur inspirieren sie aber eher zu faschingsähnlichen Mottopartys. Es ist unsere Aufgabe, aktiv dazu beizutragen, dem tieferen Sinn, der den Traditionen innewohnt, einen (neuen) Raum zu geben.
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Friedhöfe als Spiegel einer Gesellschaft
Nicht umsonst schließen die genannten Feste einen Friedhofsbesuch mit ein. Friedhöfe sind wichtige Trauerorte und damit auch wichtiger Bestandteil einer gelebten Trauer- und Erinnerungskultur. Zusätzlich sind Friedhöfe prädestinierte Orte für Rituale. Friedhöfe gibt es schon fast so lange, wie es Menschen gibt. Oft sind sie die letzten Zeugnisse vergangener Kulturen. Bis heute lassen sich auf ihnen historische Entwicklungen, kulturelle und religiöse Prägungen, Lebensweisen, Werte und Normen nachvollziehen. Zusätzlich haben sie wichtige Funktionen, die sich nicht so einfach ersetzen lassen. Sie werden klassisch in Primär- und Sekundärfunktionen unterteilt. Mit ihren Primärfunktionen fungieren Friedhöfe als Orte der Verstorbenen und als wichtige Orte für Trauernde. Zu den Sekundärfunktionen zählen ihre kulturellen, pädagogischen, sozialen und ökologischen Funktionen.
Friedhöfe haben wichtige Funktionen für trauernde Menschen
Friedhöfe bieten Schutzräume, in denen wir unsere Trauer zeigen können. Das zeigt sich auch etymologisch: Das Wort Friedhof kommt nicht etwa von Frieden, sondern wurde von „umfriedeter, also geschützter Ort“ abgeleitet. Auch wenn ursprünglich wohl eher die Verstorbenen geschützt werden sollten, sind Friedhöfe auch Orte, die trauernden Menschen Schutz bieten. Mit dieser Funktion können Friedhöfe in der Trauerverarbeitung eine wichtige Rolle spielen. Dieses Potential wird aber oft nicht ausgeschöpft.
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An einem Grab können wir in direkten Kontakt mit der verstorbenen Person treten. Völlig unabhängig von etwaigen Jenseitsvorstellungen, die unterschiedliche Vorstellungen über den Verbleib transzendenter Aspekte unseres Seins beinhalten, ist der Friedhof der Ort, an dem sich die sterblichen Überreste einer Person befinden. Viele Grabformen bieten dabei eine Vielzahl verschiedener Möglichkeiten an, diesen Kontakt zu gestalten. Diese Handlungen können als Rituale betrachtet werden.
Immer mehr Menschen verspüren das Bedürfnis, persönliche Rituale auf Friedhöfen und an Grabstätten zu entwickeln, die ihren individuellen Trauerbedürfnissen entsprechen. Doch nicht selten steht diesem Wunsch die gewählte Grabform im Weg: Pflegefreie Grabstätten, die oft aus praktischen Gründen ausgewählt werden, erlauben solche persönlichen Rituale oft nicht, was die Trauerarbeit für viele Angehörige erschwert. Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, ist es wichtig, das Verständnis für die Bedürfnisse trauernder Menschen zu fördern und Lösungen zu entwickeln, die auch an pflegefreien Gräbern persönliche Rituale ermöglichen.
Rituale am Grab
Rituale heben bestimmte Momente aus dem Alltag hervor und helfen uns, sie bewusst zu erleben. Über diese Zeigerfunktion hinaus haben Rituale weitere wichtige Funktionen, die für trauernde Menschen hilfreich sein können. Zum Beispiel transportieren sie einen übergeordneten Sinngehalt und haben eine transzendente Ebene. Durch sie können Emotionen ausgedrückt und kanalisiert werden. Dabei wirken sie sowohl identitätsstiftend als auch gemeinschaftsbildend und schaffen Verbindungen. Durch Rituale kann aktive Beziehungsarbeit geleistet werden. Zusätzlich geben Rituale und Halt und Struktur. Dadurch verleihen sie uns Handlungssicherheit und stärken unsere Selbstwirksamkeit.
Lange war der Alltag trauernder Menschen durch Rituale bestimmt. Viele davon sind in Vergessenheit geraten – einige sind nicht mehr zeitgemäß, andere waren durchaus bevormundend und wieder andere sind aufgrund des christlichen Ursprungs für viele Menschen nicht mehr stimmig. Als Gesellschaft sollten wir uns der Frage stellen, wie eine zeitgemäße Trauerkultur gestaltet und gelebt werden kann. Dabei kann, muss aber nicht zwingend auf altbekannte Rituale zurückgegriffen werden – denn Rituale helfen der Psyche in Lebenskrisen. Rituale können auch selbst erdacht und durchgeführt werden. Dann passen sie meist genau zur verstorbenen Person und ihren Angehörigen. Manchmal sind es auch nur ganz kleine Handlungen, die einen Moment als einen besonderen Moment markieren. Trotzdem können sich durch sie die positiven Funktionen der Rituale entfalten. In dem Moment, wo die Handlungen mit einer bestimmten Haltung und dem entsprechenden Bewusstsein durchgeführt werden, werden sie zu einem Ritual, dass seine positiven Kräfte entfalten kann.
Oft fehlt uns der Mut, den Friedhof mit Leben zu füllen
Die Möglichkeiten, einen Grabbesuch durch ein Ritual zu gestalten, sind dabei äußerst vielfältig. Rituale können alleine oder gemeinsam mit anderen Menschen durchgeführt werden. Dabei kann schon die Grabpflege an sich Ritualcharakter haben. Das Grab kann selbst bepflanzt und gepflegt werden, so wie es den Trauernden und der verstorbenen Person entspricht. Wer bewusst für und im Sinne mit der verstorbenen Person handelt, hält die Beziehung zur verstorbenen Person aufrecht. Viele Pflanzen haben symbolische Bedeutungen, das kann bei der Wahl berücksichtigt werden. Allein schon das aktiv werden wirkt sich positiv auf die Trauer aus, solange die Grabpflege nicht zur Belastung wird oder das Gefühl, gesellschaftlichen Konventionen gerecht werden zu müssen, im Vordergrund steht.
Die Grabpflege an sich kann durch kreative und selbstgestaltete Elemente ergänzt werden. So können Grabkerzen oder Schmuckbänder beschriftet oder Erinnerungssteine bemalt werden, wodurch kleine Grüße und Botschaften an die verstorbene Person gesendet werden können. Es können auch kleine auf Naturpapier geschriebene Briefe – gefüllt mit Erinnerungen, Wünschen oder unausgesprochenen Dingen – in der Erde vergraben werden. Wie zu Lebzeiten können wir den Verstorbenen auch jetzt noch kleine Geschenke vorbeibringen – vielleicht die Lieblingspraline?
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Am Grab ist es möglich, mit der verstorbenen Person in Kontakt zu treten – ob es sich um innere Dialoge handelt oder in der Gruppe Erinnerungen geteilt werden. Es können auch Briefe vorgelesen oder kleine Reden gehalten werden – welche Botschaft oder Anekdote hat auf der Trauerfeier gefehlt? Zusätzlich können Musikstücke gehört oder abgespielt werden oder man stößt gemeinsam auf die verstorbene Person an.
Ein Besuch auf dem Friedhof birgt viel positives Potential. Nicht nur für trauernde Menschen. Wir können auf den Friedhöfen auch in unsere Kraft kommen. Die Ehrfurcht und Betroffenheit vor den Gräberreihen kann neben Trauer noch etwas anders in uns auslösen: Die Gewissheit, dass wir leben. Mit diesem Bewusstsein und Gefühl im Herzen eigenen sich Friedhöfe besonders gut, um sich Gedanken darüber zu machen, wie wir die uns verbleibende Zeit nutzen möchten. So verbinden Friedhöfe nicht nur die Verstorbenen mit den Lebenden, sondern auch die Lebenden mit dem Leben.
Zur Autorin:
Marlene Lippok von der EndlichkeitsWerkstatt ist Kulturwissenschaftlerin, Trauerbegleiterin und Autorin des Buches ‚Der Tod und Ich‘. Mit der dazugehörigen Wanderausstellung und dem partizipativen Kunstprojekt ‚Totentanz‘ möchte sie Menschen mit ihrer Endlichkeit in Kontakt bringen. Mit ihren Ritual-Boxen möchte sie Menschen dazu anregen, ihrer Trauer einen Ausdruck zu geben.
www.endlichkeitswerkstatt.de
Unter dem Motto Eat.Cry.Repeat. ruft die Trauer Taskforce im Rahmen der Trauerwoche jährlich zu Veranstaltungen rund um Allerheiligen auf. Die Trauerwoche richtet sich an Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Ihr Ziel ist es, eine zeitgemäße und inklusive Trauerkultur zu fördern, die den Bedürfnissen einer vielfältigen Gesellschaft gerecht wird und vor allem auch jüngeren Menschen eine aktive Trauerkultur vorlebt.