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Das „Triptychon“ der Trauer

Abschiednehmen beim Sterben, beim Tod und in den Jahren des Weiterlebens „ohne-Dich“ Die Frage was Menschen in der Zeit vor dem Tod eines Zugehörigen brauchen würden, um langfristig einen guten Trauerweg gehen zu können, bekommt in der Zeit der Pandemie öffentlich und privat eine neue Aufmerksamkeit. Das Trauermodell „Trauer erschließen“ der Niederländerin Ruthmarijke Smeding, das im Begreifen- und Lernen-Können einen hilfreichen Weg für die Trauer sieht, verdeutlich die große Komplexität von Sterben, Tod und Trauer am Bildtypus des Triptychons.

Das „Triptychon“ der Trauer

Triptychon in der St. Rochus-Kapelle in Spraitbach-Heiligenbruck
© A. Daiker    

Triptychen sind dreiteilige Andachts- oder Altarbilder, die zum Aufklappen verbunden sind. Die Mitteltafel ist von zwei, häufig schmäleren, symmetrischen Flügeln flankiert, die nur zu bestimmten Zeiten geöffnet werden. Es ist bedeutsam, was gerade zugeklappt und was im Vordergrund ist. Im Trauermodell von Ruthmarijke Smeding dient das Triptychon als Illustration dafür, wie eng die drei Zeiten der Trauer zusammengehören. Sie sind für jeden unterschiedlich gewichtig, können sich gegenseitig beeinflussen oder überdecken und sind in wechselnder Intensität immer wieder präsent. Die drei Tafeln des Triptychons der Trauer stehen für folgende unterschiedliche Qualitäten:

    • Die linke Tafel für die Sterbetrauer in der Zeit des Sterbens
    • Die mittlere Tafel für die Todestrauer zwischen Tod und Beerdigung
    • Die rechte Tafel für die Weiterlebenstrauer in den Monaten und Jahren nach dem Tod

© A. Daiker    

Die Sterbetrauer

Die Zeit des Sterbens ist dadurch geprägt, dass Sterbende und Angehörige gemeinsam um das trauern, was nicht mehr möglich ist. Die Zeit ist durchwirkt von vielen Abschieden und geprägt von der Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschieht. Die Ohnmacht, angesichts des Verfalls, der Schmerzen etc. nichts tun zu können, ist schwer auszuhalten. Je nach Typ und Lebensstil kommen Zugehörige in dieser Zeit in eine Spannung zwischen dem Hier und Jetzt des Sterbenden und ihrer Sorge für das eigene spätere Weiterleben. Vielleicht entdeckt man aneinander Dinge, die vorher verborgen oder überspielt waren. Oder alte Verletzungen kommen hoch, die nicht mehr angegangen werden können. Das kann schwierige Fragen auslösen oder zu einem belastenden Schweigen führen. Dann wird die Trauer um „Versäumtes“ zusätzlich belastet. Bei schweren Prozessen gibt es auch den gemeinsamen Wunsch: Wenn es doch endlich zu Ende wäre!
Diese Zeit ist vielschichtig und durchwoben von Trauer und letztem Glück. Und sie bietet Gelegenheit, für das gemeinsame Erlebte zu danken und sich Liebevolles zu sagen.

 

Ganz nahe in der Zeit des Sterbens

Es ergibt sich oft eine besondere, vom bevorstehenden Tod geprägte „Todes-Intimität“, eine Nähe, die für viele trauernde Menschen im Rückblick zu den kostbarsten Erfahrungen mit dem Sterbenden gehört. Wenn Menschen ihre Zugehörigen nicht begleiten können, fehlt ihnen später nicht nur die Dankbarkeit für diese wertvollen Momente, (auch wenn es diese vielleicht so gar nicht gegeben hätte) und die Möglichkeit, evtl. zu Klärendes noch anzusprechen. Zusätzlich wird die Fantasie genährt, was noch alles hätte sein können, wobei das Positive meistens im Vordergrund steht. Diese Fantasien gilt es sehr ernst zu nehmen: darin könnten Schlüssel zur weiteren Verarbeitung liegen…

© A. Daiker    

Die Todestrauer

Meistens ist man auch nach einer langen Zeit des Sterbens „überrascht“, wenn der Tod tatsächlich eintritt. Die Erfahrung des Todes, die Todestrauer, hat oft etwas Irreales. Viele beschreiben es auch als einen „heiligen Moment“, als ein großes Staunen. Die Gefühle können vielfältig und widerstreitend sein: zustimmend, dankbar, erleichtert oder auflehnend, fassungslos, schockiert. Manche fühlen zuerst gar nichts, fangen sofort an alles zu regeln. Die Gefühle kommen bei ihnen erst später. 

Den Tod leibhaftig begreifen

Zwischen dem Moment des Todes und der Beerdigung ist Gelegenheit, um vom Leib des Verstorbenen Abschied zu nehmen. Auch Zärtlichkeiten sind noch möglich. Die/der Verstorbene kann berührt werden. Bald verändert sich die äußere Erscheinungsform und die geliebte Person wird zunehmend als fremd erfahren. In der schmerzlichen Wahrnehmung der nachlassenden Präsenz kann man den Tod ahnungsweise „begreifen“. Für Zugehörige ist es dann hilfreich, wenn sie das Gefühl haben, alles getan zu haben, was möglich war.
Das Berühren des Verstorbenen war auch vor Corona nicht immer möglich. Aber meistens gab es, für die, die das wollten noch Gelegenheit zu persönlichen Gesten oder tröstlichen Ritualen des Abschiednehmens. Weil sie heute oft fehlen oder nur „verstümmelt“ zum Ausdruck gebracht werden können, können Gefühle von Schuld und Ohnmacht bleiben.

Die Weiterlebenstrauer

Nach der Beerdigung fängt für trauernde Zugehörige eine neue Lebensetappe an. Auf dem langen, notgedrungen einsamen Weg müssen sie mit einer abwesenden Anwesenheit, oder anwesenden Abwesenheit umgehen lernen. Sie sind jetzt für alles selber zuständig und müssen neue Rhythmen und Alltagsrituale finden. Der Verlust wird in allen Dimensionen erst langsam und zunehmend als schlimm erlebt. Der Blick auf schöne und schwierige Erinnerungen macht das „nicht mehr“ und „nie wieder“ schmerzlich bewusst. Die Aufgabe, das eigene Leben verwandelt einzurichten, ist anstrengend. Der Kontrast zur Umwelt, für die die Erinnerung an die Verstorbenen langsam verblasst, macht das eigene Erleben zusätzlich schwer.

 

Mit der Lücke weiterleben

Das Weiterleben mit der Trauer war schon vor Corona für Trauernde ein oft jahrelanges, verborgenes „Alphabetisieren“ eines neuen Lebens. In diesen Schmerz mischen sich nun zusätzlich belastende Gefühle von Schuld, Versäumnis und Unfassbarkeit. Trauernde in Corona-Zeiten, egal ob sie jemand an oder mit Corona, oder durch eine andere Todesart verloren haben, müssen jetzt nicht nur mit der schmerzlichen Lücke weiterleben, sondern tragen zusätzlich schwer daran, den Verstorbenen nicht begleitet und ihm möglicherweise keine angemessene Beerdigung organisiert zu haben. Verpasste letzte Worte und tröstliche Bilder fehlen und Phantasien über ein möglicherweise schlimmes und einsames Sterben lassen sich schwer bändigen. Der Schmerz um den verhinderten Abschied kann das „Lernen-ohne-Dich weiterzuleben“ erschweren.

 

Der Blick auf das persönliche Trauertriptychon

Mit Corona wird deutlich, wie gravierend es ist, wenn im großen Triptychon von Sterben, Tod und Trauer wesentliche Erfahrungen im Abschiednehmen fehlen und wie sehr dieser Mangel Achtsamkeit und Wertschätzung verlangt. Menschen haben das auch vor Corona erfahren, wenn Zugehörige plötzlich, bei einem Unfall, durch Suizid, Mord gestorben sind. Aber erst jetzt erleben viele Menschen, wie wichtig die einzelnen Tafeln der Trauer für den eigenen Trauerweg sind. Trauernde brauchen heute mehr denn je Begleiter*innen, die mit Respekt – und der Einsicht in verschiedene Trauerwege und Lernformen – mit ihnen auf ihr persönliches Trauertriptychon schauen. Behutsam müssen einzelne Tafeln vielleicht erst erschlossen und für eine bestimmte Zeit auch zugeklappt werden, in dem Wissen, dass man sie immer wieder öffnen kann und darf.

Dr. Angelika Daiker, Theologin, Germanistin
Von 2007 – 2017 leitete sie das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie auch konzeptionell aufgebaut hat.
Ihr besonderer Blick galt immer der Begleitung Trauernder. A. Daiker ist Autorin vieler Bücher im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung.

Buchempfehlung:
„Trauer erschließen, eine Tafel der Gezeiten“
von Ruthmarijke Smeding, M. Heitkönig-Wilp  ISBN  3-9808351-7-0
http://www.bestatter-wiki.de/cms/download.php?cat=30_B-FACHKRAFT&file=hb6-b-smeding.pdf

 

 

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