Das Leben wird geteilt – in ein Davor und ein Danach
Bis eben noch standen wir mitten im Leben. Und wenn man nicht zufällig darauf angesprochen wird, denkt man darüber nicht nach, was das denn heißt – so mitten im Leben stehen. Steht man wirklich fest und sicher, mit beiden Füßen auf dem Boden? Oder hatte man nur das buchstäbliche Glück, dass diese Standfestigkeit nicht auf die Probe gestellt wurde?
Und genauso ist es uns ergangen. Es gab zu keiner Zeit so etwas wie den „großen Plan“, der verfolgt wurde. Das Leben ist uns passiert und wir haben es im Wesentlichen dann auch so passieren lassen. Alles lief. Es lief gut und wir waren uns nicht darüber bewusst, wie gut.
Nach dem Tod von Max waren wir nun in einer vollkommen veränderten Wirklichkeit, einer neuen Realität angekommen, die wir auch heute – fast neun Jahre nach seinem Tod – immer noch nicht vollständig durchdrungen haben.
Verletzlich – hilflos – ausgeliefert
Es gäbe zwischenzeitlich viele Beschreibungen und Bilder, mit denen wir versuchen könnten, unsere damaligen Gefühle, Stimmungen, Erlebnisse zu schildern, doch damals war uns das nicht möglich. Wir wussten nichts. Leer, verloren, allein, sprachlos – weil keine Worte das Unfassbare beschreiben konnten. Freunde, Familie und Kollegen begleiteten uns, übernahmen Aufgaben, leisteten Beistand.
Mit der Zeit zeichneten sich dann „Ermüdungserscheinungen“ im Umgang mit uns Trauernden ab. Einige Menschen in unserem Umfeld sind weiterhin achtsam und bedacht in Handlung gegangen, manche haben mit uns mitgelitten, andere waren hilflos und traurig, uns so verzweifelt und verloren sehen zu müssen und hielten dies kaum aus. Wieder andere sind über die Tatsache erschrocken, dass – wenn uns dieses Schicksal trifft – es ihnen auch ebenso widerfahren könne. Und ehrlicherweise müssen wir sagen, dass es auch jene gab, denen wir mit unserem Schicksal einfach lästig waren, in ihrem eigenen schönen Leben.
Alles will neu gedacht und bewertet werden
Irgendwann waren meine Frau und ich dann nur noch fassungslos über die zahllosen Erwartungen, Forderungen, Ratschläge und auch Vorwürfe, die zunehmend an uns herangetragen wurden. Irgendwann haben wir dann im Rahmen der Selbstermächtigung die Deutungs- und Gestaltungshoheit über unser Leben wieder selbst übernommen. Wir wussten zwar noch nicht genau was wir für uns wollten, aber was wir nicht mehr wollten, das sahen wir zunehmend klarer. Voraussetzung dafür war, dass wir uns erst selbst wieder finden mussten, um dadurch dann vollends in unserer neuen Lebenswirklichkeit ankommen zu können. Es wurde vieles neu betrachtet, geprüft, bewertet und hinterfragt. Reden, reden, reden. Diese Zeit war notwendig und ebenso erkenntnis- wie tränenreich, hat sie uns doch von der ursprünglichen Frage „was wollen wir“ zur eigentlichen Frage „was brauchen wir“ geführt.
Geholfen haben uns dabei die professionelle Unterstützung eines Vereins für trauernde Eltern und Kinder und der sehr wertvolle Austausch mit anderen betroffenen Eltern in der Selbsthilfegruppe, deren Zusammenhalt uns bis heute trägt. Nach ziemlich genau einem Jahr nach dem Tod von Max haben wir uns erstmals auf den Weg gemacht, um den Verein, die Therapeuten und die anderen trauernden Eltern kennenzulernen. Es hat sich gelohnt, sich unseren Ängsten zu stellen und unsere Bedenken zu überwinden. Die Bestärkungen und die Resonanz aus der Gruppe haben uns klarer und sicherer werden lassen Das zu erkennen und zu formulieren war und ist gut und wichtig für uns.
Es gibt keinen Fahrplan für die Trauer
Wir begannen über Veränderungen nachzudenken, Wünsche und Möglichkeiten zu formulieren und legten schließlich Sammlungen an. Wir sammelten diese Wünsche, Hoffnungen, Erfahrungen und auch die Sätze, die wir als Unverschämtheiten trotz aller Bemühungen nicht überhören konnten.
Einzelne Freundschaften wurden in dieser Zeit aktiv beendet, auch wenn dies nach dem Verlust unseres Sohnes zu weiteren Abschieden von unserem bisherigen Leben führte. Unser aktives Handeln führte uns zunehmend auch zu neuen Menschen. Solchen, die uns mit unserem Schicksal kennenlernten, oder solche, die man dann mit einer ähnlichen Geschichte in einer Selbsthilfegruppe kennenlernen durfte. Alles schien plötzlich viel klarer, fühlte sich besser an – und führte zu weiteren Veränderungen z.B. auch beim Wohnen und Arbeiten.
Experten für die eigene Trauer
Und die Ursachen dafür können wir klar benennen: Selbst handeln, selbst gestalten, bevor man das Gefühl hat, dass man nicht mehr selbst das eigene Handeln bestimmt, sondern bestimmt wird und alles um einen herum einfach geschieht, ohne dass man selbst Einfluss darauf nehmen kann. Jeder ist für sich der beste Experte für die eigene Trauer. Wir haben selbst geplant und gehandelt: wie gestalten wir Weihnachten, was machen wir an Geburts- und Todestagen? Was geht, was geht nicht? Nicht alles ist gelungen, Garantien gibt es weiterhin keine – nur Chancen und Hoffnungen auf ein eigenes, frei gestaltetes Leben. Dem Gefühl zu vertrauen, das haben wir neu erlernen müssen.
In dieser intensiven Zeit haben wir zahlreiche Erkenntnisse erlangt – kann man auch sagen gewonnen? Kann man aus dem Tod des Sohnes Gewinn schöpfen…? Mittlerweile denken wir: JA, das kann und das darf man! Ebenso wie wir es uns erlaubt haben, ein eigenes, vielleicht neues Leben zu leben. Wenn Max nun gestorben ist, uns jeden Tag fehlt, dann sollte das doch zumindest zu etwas Neuem, Besseren führen.
Über den Tod reden bringt keinen um!
Aus unseren Sammlungen und den mitunter bitteren Erfahrungen heraus, wie in unserer Gesellschaft mit Trauer umgegangen wird, und dem zwischenzeitlich von uns deutlicher formulierten Wunsch nach Beistand und Verständnis für Trauernde, ist im Laufe der Zeit eine Broschüre entstanden, die die Welt der Trauernden und die der (Noch-) Nicht-Trauernden ein wenig einander annähern und verständlich machen soll. Der Trauer wird in unserer (Leistungs-) Gesellschaft aus ganz unterschiedlichen Gründen (von mindestens Unsicherheit, meist Hilflosigkeit oder mitunter gar Angst und oft auch aus einer großen Portion Unwissenheit heraus) kaum Zeit und Raum gewährt.
Trauer hat keine Ablauffrist – sie ist die Verbindung zu unseren Verstorbenen
„Tod und Trauer“ haben einen festen Platz in unserem Leben und wir geben diesem Thema auf vielfältige Weise Ausdruck. Bilder, Fotos und unsere Texte teilen wir auf unserer Website und bei Instagram und stehen dort mit anderen Trauernden im regen Austausch. Es würde uns sehr freuen, wenn wir durch unsere Erfahrungen und Erkenntnisse anderen Menschen, die einen Verlust erlitten haben, eine Unterstützung sein könnten, ihren eigenen Trauerweg zu finden und zu gehen.
Hat diese Aufgabe nun uns gesucht? Oder haben wir uns dieser Aufgabe durch die veränderte Wirklichkeit gestellt? In jedem Fall ist es eine sehr erfüllende Aufgabe, die auch immer ihren Ursprung offenbart: Unser Sohn Max fehlt!
Es gibt auch weiterhin die ganz schmerzlichen Momente, Tage, Zeiten und – das haben wir zwischenzeitlich erfahren – auch diese gehen wieder vorbei, wenn auch ein Trauerschleier über unserem Leben bleiben wird, bis ans Ende unserer Tage.
Dem Gehenden – so sagte es Martin Walser – schiebt sich der Weg unter die Füße. So ist es wohl auch uns ergangen. Lasst uns alle immer wieder aufbrechen, lasst uns gehen.
„Über den Tod reden“, so lautet der Titel der Broschüre von Sylvia und Andreas Hey, die die 15 Leitgedanken zum Umgang mit Trauernden enthält. Sie ist aus der Not, aus ihrer Not heraus entstanden und ist zwischenzeitlich deutschlandweit bei zahlreichen Trauerbegleiter*innen, Hospizdiensten, Therapeut*innen und auch Psycholog*innen im Einsatz. Auch bei trauer/now können diese nachgelesen werden und die Broschüre steht kostenfrei als Download auf der Website bereit.