© Hamburger Friedhöfe
Der Eingang des Friedhofs Öjendorf liegt noch im Dunkeln an diesem Morgen im Februar. Weiter nördlich, am Rand des Grabfelds 317, parkt ein Mercedes Vito mit offener Heckklappe. In dessen Kofferraum stehen fünf hellgraue Plastikkisten.
Die Sandwege und Straßen auf dem parkähnlichen Gelände sind leer. Diesig hängt die Luft über den Rasenflächen, auf denen Grablichter flimmern. Vögel beginnen auf den alten Eichen zu zwitschern, darunter liegt das entfernte Tosen der A24. Drei Friedhofsmitarbeiter in grünen Pullovern und Jacken stehen vor dem Van und plaudern, während an der Straße das Licht der Straßenlaternen erlischt.
„Wollen wir?!“, fragt einer der drei Männer und blickt auf seine Armbanduhr. Daraufhin greift der Jüngste von ihnen zu einer Kiste. „Warst du nicht neulich krank? Dein Rücken?“ Der Jüngste winkt ab. Trotzdem tragen sie die Kisten danach zu zweit. Dreieinhalb bis fünf Kilogramm wiegt der Inhalt einer Urne. Sie stellen sie vor der Grabreihe 51 ab. Den Boden haben die Männer bereits aufgebrochen. Die helle Erde liegt dort wie ein langgezogener Maulwurfshügel. In den Kisten sind 30 schwarze Urnen, in ihnen liegt die Asche von 30 Menschen.
Wann das Amt bestatten lässt
„Leichen sind zu bestatten“ und die Angehörigen sind verpflichtet, sich darum zu kümmern. An erster Stelle stehen Ehe- und eingetragene Lebenspartner*innen in der Pflicht, danach kommen Kinder, Eltern, Geschwister und zuletzt die Enkel. So steht es im Hamburger Bestattungsgesetz.
Nach Eintreffen eines verstorbenen Menschen bei den Friedhöfen Hamburg, schreiben diese alle ihnen bekannten Angehörigen – im Sinne des Gesetzes – an. Zehn Tage haben sie dafür. Die Kontakte bekommen sie zum Beispiel von den Sozialämtern, dem LKA und Bekannten, schreibt die Hamburger Sozialbehörde auf Anfrage. Bestattungsrecht ist Ländersache und die genauen Abläufe unterscheiden sich.
Aber was passiert, wenn die Angehörigen nicht reagieren, sie nicht bekannt sind oder es gar keine gibt? Dann veranlasst das Ordnungsamt die Beisetzung, die „Bestattung von Amts wegen“. In Hamburg übernimmt sie der Friedhof Öjendorf, ein Parkfriedhof im Osten der Stadt, gelegen an einem Bachtal samt Vogelschutzgebiet. Die meisten Leichen werden eingeäschert. Außer Muslim*innen und jene, die zu Lebzeiten vorgesorgt und es zum Beispiel schriftlich ausgeschlossen hatten.
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Mit und ohne Trauernde
Sollten sich Hinterbliebene wie Freundinnen oder Nachbarn beim Friedhof melden, dann können sie die Beisetzung begleiten. Das sind die Montagstermine. Für diese Bestattungen sind 45 Minuten vorgesehen. Es kommen zum Beispiel Skatbrüder oder Zimmernachbarinnen aus dem Pflegeheim.
Sie sind etwas feierlicher und ein Mitarbeiter des Friedhofs begleitet sie, zum Beispiel Björn Rath. Sein Name wurde geändert, keiner der Friedhofsmitarbeiter möchte namentlich erscheinen. Auch Rath steht an diesem Morgen beim Grabfeld 317. Er sagt: „Bestattungen von Amts wegen mit Begleitung mache ich sehr gern … Die würden mir fehlen, wenn sie nicht dabei wären. Das mag merkwürdig klingen. Aber dort habe ich den direkten Kontakt zu den Menschen und kann helfen.“
An den Dienstagsterminen wie heute finden die Beisetzungen ohne Angehörige und Hinterbliebene statt.
Die Zahlen steigen
Inzwischen ist es 8:30 Uhr. An der Seite der Grabreihe warten die Friedhofsmitarbeiter. Neben ihnen steht ein Kleintraktor als warte auch er. „Fünf Minuten. Sonst legen wir los“, sagt einer der Männer und blickt auf den Sandweg entlang der Straße. Die Geistliche, die heute die Verstorbenen aussegnet, ist noch nicht da.
Zwölf evangelische und katholische Kolleg*innen wechseln sich ab. Sabine Erler koordiniert das Ganze, sie war bis zum Ruhestand Pastorin für Trauerkultur. Am Telefon sagt Erler: „Es waren jahrelang in schöner Regelmäßigkeit alle 14 Tage 30 Urnen. Im Januar und Februar dieses Jahres war es das erste Mal wöchentlich.“
Eine offizielle Statistik für Hamburg oder bundesweit gibt es nicht. Fest steht: Der Friedhof richtete Extratermine ein, für Beisetzungen mit und ohne Begleitung. Laut Hamburger Friedhöfen gab es in den 2000ern jährlich zwischen 600 und 800 „Bestattungen von Amts wegen“. Im Jahr 2021 waren es 1.427 dieser Bestattungen und im Folgejahr 1.602. Das Statistische Bundesamt gibt für 2021 an, dass 18.845 Menschen in Hamburg gestorben sind und 2022 19.899 Menschen.
Bis Ende Juli dieses Jahres wurden 985 Sterbefälle als „Bestattungen von Amts wegen“ vermerkt.
Waren sie alle einsam?
Name, Geburtsdatum, Todesdatum. Silberne Tafeln an quadratischen Stelen listen sie für jede Grabreihe. Frank, Günter, Helena und Paula. Ihre Leben endeten mit 53, 66, 84 und 90 Jahren.
Hier und da ein paar Blumen, vom Regen der vergangenen Tage durchtränkt. Kerzen, Engelchen und ein bemalter kleiner Stein auf dem Boden. Sie bezeugen, dass hier jemand war. Vielleicht eine Freundin, vielleicht ein Fremder, oder doch Familie. Etwas weiter nördlich liegen zehn Findlinge, auf denen etwa „Tochter“, „Vater“ und „Freundin“ geschrieben steht. Der Pfad erinnert an Beziehungen, in denen die Verstorbenen einst standen. Er ist auch ein Ort für Abschied und Trauer, wenn es sonst keinen gibt.
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Für viele Menschen mögen Beisetzungen durch das Amt als die der Einsamen und Verlorenen erscheinen. Erler aber sagt: „Dass das Amt zum Zeitpunkt des Todes keine bestattungspflichtigen Angehörigen findet, ist die eine Sache. Dass es trotzdem Menschen gibt, die um die Person trauern, ist die andere.“ Es gebe viele Gründe, warum niemand kommt, und es sei nicht unbedingt Einsamkeit: Vielleicht hat der Mensch die eigenen Kinder überlebt; die Angehörigen hatten nicht genügend Geld; oder sie leben im Ausland. So kann es passieren, dass Angehörige sich nicht kümmern oder dass sie – und somit andere Hinterbliebene – nichts oder zu spät von der Beisetzung erfahren.
Wird dann ein Mensch durch das Amt und ohne Begleitung beigesetzt, vergeht die Möglichkeit des Abschieds bei der Beisetzung. Andererseits, sagt Friedhofsmitarbeiter Rath, sei es „für den verstorbenen Menschen wichtig, beigesetzt zu werden. Es wäre pietätlos, das allzu lange Zeit hinauszuzögern.“
Wenn nichts getan werden darf
Manchmal sind da Menschen, die sich kümmern wollen, aber laut Gesetz nicht entscheiden dürfen. Rath erinnert sich an einen Verstorbenen und dessen Schwester: „Die Schwester konnte die Bestattung nicht bezahlen. Sie hat sich nicht mehr darum gekümmert. … Und die anderen Bekannten, allen voran die Lebensgefährtin, durften es nicht in die Hand nehmen.“
Solche Geschichten kennt auch Erler: Plötzlich ist der rechtmäßig nächste Angehörige für die Bestattung verantwortlich, obwohl jahrzehntelang kein Wort gewechselt wurde. Erler erlebte wie ein Vater seinen Sohn anonym beisetzen ließ. Die Partnerin des Sohnes, die ihm in der letzten Phase seines Lebens am nächsten war, durfte nicht mitentscheiden.
Die Namen der Menschen
In 50 Metern nähert sich die Pastoralreferentin Vera Hofbauer. Sie trägt eine grob gestrickte blau-graue Mütze und an ihrer Umhängetasche baumelt ein Desinfektionsfläschchen. Raths Kollege drückt ihm den Zettel mit den Namen der Verstorbenen in die Hand: „Liest du vor?“ Es ist eine rhetorische Frage. Rath erwidert: „Ich glaub, ich hab hier den Ruf der Rampensau … Ne, ich mach das gern.“
„Moin, von mir aus können wir loslegen“, sagt Hofbauer und lächelt. Schon geht sie mit Rath zur Grabreihe. Vor den Urnen bleiben sie nebeneinander stehen. Rath legt die Hände ineinander. Hofbauer blickt auf ihr Smartphone, auf dem sie ihren Text gespeichert hat, und liest laut die Worte: „Führe sie zur Herrlichkeit des Himmels und gib ihnen je nach ihrem Wunsch Wohnung und Heimat bei dir […]“ Sie weiß nichts über die Menschen, ob sie glaubten oder wie sie sich ihren Abschied wünschten.
Zum Schluss liest Rath jeden der 30 Namen laut vor. Nach dem dreißigsten Namen verneigt er sich. „Es ist schön, es würdevoll zu machen … etwa die Namen zu verlesen“, sagt Hofbauer später.
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Würde und Alltag, Hand in Hand
Der Motor rattert, eine schwarze Katze huscht von einem Gebüsch ins andere. An einem kleinen Trecker hängt ein mannshoher Bohrer, zwischen den Reifen liegt die Grabreihe. Der Bohrer wird per Hand mit einer großen Kurbel in die Erde gelassen: 30-mal, Urne für Urne, immer ein Stück weiter. „Wie viele Urnen der schon gemacht hat, mein Gott“, sagt der Älteste der drei Friedhofsmitarbeiter.
Der Bohrer sei ein Grund dafür, warum sie so früh beisetzen. „Auf manche wirkt es befremdlich“, sagt Rath. „Es funktioniert aber nicht, dass ein oder zwei Leute 30 Urnengrüfte ausheben.“ Für viele Menschen ist der Tod ein sensibles Thema. Vielleicht möchten die Friedhofsmitarbeiter auch deshalb nicht, dass ihre Namen genannt werden.
So alltäglich das hier ist, so einmalig ist es, für jeden Menschen, für jede Urne. Warum wissen wir so wenig über diese Form der Beisetzungen? Was sagen die Zahlen über unser Zusammenleben? Wo finden Trauer und Würde Raum?
Für Rath persönlich seien die Beisetzungen zwar anders aber würdevoll, „wenn man sich vom Gedanken frei macht, dass ein Fremder den Namen nennt und den Verstorbenen beisetzt.“ Das erforderten die Umstände und die seien vielseitig. „Wir machen das Ritual mit der Aussegnung. Wir nennen die Namen, damit dieser Name noch einmal gefallen ist und der Mensch nicht in völliger Anonymität beigesetzt wird. Wir lassen die Urnen so vorsichtig und so würdevoll wie möglich in die Erde.“ Es ist sein Job, klar, doch man spürt es: Für Rath ist es ein aufrichtiges Herzensanliegen, er ist voll da, seine Augen wach, er macht es gern.
Kaum sind sie fertig, steigen die Männer in den Vito. Sie müssen Beisetzungen vorbereiten, sich danach duschen und umziehen für Trauerfeiern am Nachmittag.
„Schön, dass du da bist.“
Vielleicht drei, vier Mal im Monat kämen Hinterbliebene und fragten nach, sagt Rath. Die Urne des Menschen, den sie suchen, kann der Friedhof exakt verorten. Manchmal führt Rath sie dorthin.
„Viele haben ein schlechtes Gewissen, dass es auf diese Art stattgefunden hat. Sie entschuldigen sich und sagen, dass es ihnen schwer auf dem Herzen liegt und sie gern was gemacht hätten.“ Dabei zähle nur, dass sie jetzt da seien und sich verabschieden. Rath sage dann: „Wenn sie jetzt neben Ihnen stände, würde sie sagen: ‚Schön, dass du da bist.‘“
Autor: Merlin Menze entwickelt, koordiniert und verwirklicht Recherche- und Erzählprojekte für Organisationen, Medien und Projekte. Er studierte in Bremen, Lissabon und Kiel Politik- und Kulturwissenschaft und interdisziplinäre Nachhaltigkeit. Oft bewegt er sich an Schnittstellen investigativer Recherchen und den Geschichten der Menschen, in all ihren Facetten. Seine Schwerpunkte sind Themen rund um Gesellschaft und Ungleichheit sowie Wissenschaft und Umwelt.