Was bedeutet Resilienz?
Resilienz (von lateinisch resilire: zurückspringen, abprallen, nicht anhaften) bezeichnet eine Anpassungsfähigkeit auf Probleme und Veränderungen, quasi eine Art Widerstandsfähigkeit. Der Begriff stammt aus der Materialkunde und bezeichnet in der Physik Materialien, die hochelastisch nach einer Verformung wieder in ihren Ursprungszustand zurück gehen. Wie Gummi, eine Feder oder ein Schwamm. Bei resilienten Menschen funktioniert das Prinzip ähnlich: sie können sich nach einer Belastungssituation dank ihrer Widerstandskraft wieder aufrichten und ihr Leben gestalten. Sie erholen sich von Belastungen schneller, sind flexibler in der Anpassung an Herausforderungen.
Zurück zu Frau W.: Sie definiert sich nicht als „resilient“. Sie sieht sich angesichts der vor ihr liegenden Aufgaben der Situation nicht gewachsen. Muss sie sich Resilienz „antrainieren“ oder aneignen? Nein. Lassen sie mich erklären.
Mein Ansatz in der Trauerbegleitung ist folgender: Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch über die Fähigkeit zur Resilienz verfügt, um seine aktuellen Herausforderungen und Probleme zu meistern. Das ist ein ressourcenorientierter Ansatz, von dem ich überzeugt bin.
Ich will das aus 2 Perspektiven darstellen:
Erstens: Wir als Menschen sind eine Spezies, die sich über Jahrmillionen aus anderen Spezien gebildet hat. Stets fand durch Fortpflanzung eine Optimierung der Fähigkeiten und eine Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten statt. Wir hatten und haben für die Welt, in die wir hinein geboren werden, die Voraussetzungen zum Überleben, und dazu gehört auch das emotionale Überleben in Krisen wie Trauer – denn Sterben und die Trauerbewältigung durch die Angehörigen war und ist schon immer immanenter Bestandteil vom Menschsein. Keine Generation hätte überlebt, wenn sie mit dem Sterben ihrer Stammesangehörigen nicht irgendwie klargekommen wäre.
Zweitens: Ein Kleinkind fällt im Prozess des Laufenlernens ca. 100 Mal pro Tag hin (Quelle: Karen Adolph et al. (2012) How do you learn to walk?). Das sind pro Monat ca. 3.000 Mal und über einen Zeitraum von einem halben Jahr ca. 18.000 Mal. Was für eine Frustrationstoleranz muss ein Kleinkind haben, um Laufen zu lernen!
Unser Resilienz-Potential
Dasselbe Procedere von „Probieren bis zum Können“ passiert später beim Lernen und Aneignen von Sprache, Fahrradfahren, diversen Sportarten oder Alltags- und Schulwissen. Dieses Lernen ist quasi der eingebaute Motor für das Leben, das Überleben und die Selbstentwicklung. Dieser Motor ist uns angeboren, er „schiebt“ uns durchs Leben. In einem Verlustfall ist derselbe Motor „aktiv“: Wir lernen, mit dem Verlustfall zu leben. Eine innere Energie drückt uns durch dieses „Erlebnisportal“. Manche Trauernde sagen zu mir: „Ich weiß nicht, wie ich diese Zeit überlebt habe nach dem Tod von XY, aber irgendetwas hat mich angetrieben, Tag für Tag.“
Zusammengefasst heißt das: Wir sind für dieses Leben mit all seinen Herausforderungen gemacht. Die Fähigkeit zu Resilienz ist bei allen Menschen gleich groß, doch nicht alle Menschen schöpfen dieses Potential aus.
Was hindert sie daran? Das können niedrige Bewusstseinszustände (wie Angst, Scham, Neid, Sorgen), negative Glaubenssätze über sich selbst („Ich kann das eh nicht.“, etc.), Mangelorientierung („das Leben meint es immer schlecht mit mir“) oder überhebliche Selbsteinschätzung („das kriege ich allein hin“) sein. Sie behindern die vollständige Ausprägung von Resilienz.
Trauer hat aus meiner Beobachtung in punkto Resilienz eine eigene Dynamik. Unser Fokus liegt oftmals falsch: Wir schauen als Trauernde gerne auf das, was fehlt, anstatt auf das, was da ist. Wir sehen das Loch, das der Tod in unserem Leben „gerissen“ hat und können in einem solchen Stadium nicht erkennen, dass wir die Fähigkeiten haben, mit diesem Verlust weiterzuleben. Es ist, als stünden wir erstarrt vor einem Berg, wie ein Kaninchen vor der Schlange. Die Überwindung erscheint in der Erstarrung oder Fixierung auf den Berg nicht möglich. Stattdessen keimen Gefühle von Angst, Verzweiflung und Ohnmacht auf. Eine Sorgenspirale beginnt sich zu drehen.
In meinen Trauerbegleitungen sortiere ich mit meinen Klient*innen die Möglichkeiten, diesen Berg in sinnvollen und leistbaren Etappen zu erklimmen, oder den Berg kreativ zu umgehen oder sich Hilfe beim Wegsuchen oder Gepäcktragen zu holen. Nicht immer ist der direkteste Weg der passendste. Jeder trauernde Mensch muss seinen, zu ihm passenden Weg finden.
Doch wie geht das? Wie finde ich meinen Weg?
5 Punkte zu mehr Resilienz
1. Bewusstsein über die eigene Resilienz:
Jede und jeder von uns kann aus dem Freundeskreis, Kolleginnenkreis oder aus der eigenen Geschichte von Resilienz-basierten Leistungen und Höchstleistungen erzählen. Das Problem bei uns selbst: wir vergessen oft, was wir schon alles an Trauerarbeit geleistet haben und unsere Resilienz unter Beweis gestellt haben: der Verlust des ersten Haustiers oder Kuscheltiers, der Verlust von Freundinnen und Freunden, ggf. ein Umzug (und Verlust von Heimat), missglückte Prüfungen oder Schuljahre, das Ende der ersten Beziehung, usw.. Verluste und Traueranlässe pflastern unseren Weg und machen uns widerstandsfähig für den nächsten Verlust. In dieser Hinsicht verweise ich Menschen in Trauer gerne auf diese enorme Anzahl und Vielfalt an Dingen, die sie bereits verloren oder aufgeben und betrauern mussten. Allein dieser Blick auf das Erreichte macht Mut für den aktuellen Verlustfall, schenkt Kraft und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten.
2. Offenheit und Neugier:
Wir sind auf einer unerwünschten „Abenteuerreise“. Das Land, das ich als Trauernde*r betrete, ist Neuland. Wir waren nie oder nur sehr selten bisher in solch neuen Gefilden. Ich kann mich natürlich gegen diese Reise wehren und das Neue blöd finden. Aber mit einer Portion Offenheit für das Neue ist es leichter, mit den Herausforderungen umzugehen. Nach dem Motto: „Das Leben hat mir einen gewaltigen Prügel in den Weg geworfen. Ich bin gespannt, welche neuen Wege ich dadurch entdecke“.
3. Klarheit und Ruhe:
In diesen Bewusstseinszuständen kann ich als Trauernde*r auf meine innere Weisheit (bzw. Intuition) zurückgreifen. In einem Zustand von Ruhe und Klarheit sehe ich den nächsten, für mich passenden Schritt besser und schneller. Zum Beispiel: Ich kontaktiere einen alten Bekannten, der Ähnliches erlebt hat und mir Verständnis zeigen und Mut machen kann. Auf einen solchen, hilfreichen Gedanken komme ich aus der Ruhe heraus. Im Stress, in der Überanstrengung oder in der Erschöpfung fällt mir soetwas wahrscheinlich nicht ein. Für diese Klarheit und Ruhe kann es vor allem am Anfang einer stürmischen Trauerzeit sinnvoll sein, sich eine externe Begleitung als „Guide“ dazuzuholen.
4. Es muss sich stimmig anfühlen:
Jeder Schritt, den ich auf meinem Trauerweg mache, sollte mit einem Gefühl von Sicherheit, Hoffnung oder Erleichterung einhergehen – hinsichtlich sozialen Umfeldes, Freizeitaktivitäten und Tagesstruktur. Hilfreich ist da die Frage: Habe ich Menschen um mich herum, die mir gut tun, wähle ich eine Freizeitbeschäftigung, die mir Kraft gibt, finde ich einen Tagesrhythmus, der mir entspricht und gut tut? Mittelfristig kann auch die berufliche Tätigkeit, der Freundeskreis und/oder der Wohnort auf den „Wohlfühl-Prüfstand“ gestellt werden. Sich in ein möglichst gutes, stimmiges Gefühl zu bringen, ist essentiell in der Trauer und erhöht die Wahrscheinlichkeit für gute Entscheidungen.
5. Der spirituelle Weg.
Was meine ich damit? Nicht jeder Schritt muss aus eigener Kraft gegangen werden. Eine Anbindung an das Universelle, an ein Höheres Selbst, ans Universum, an Gott (oder wie man es auch nennen mag) wirkt wie ein Leuchtfeuer auf dem Weg. Ich fühle mich getragen, geleitet, ermutigt. Manche finden diese Unterstützung im Glauben und im Gebet, andere in der Natur, in Meditationen, in Jenseitskontakten oder in Lehren von alten Mystikern oder im Yoga. Das ist nichts Esoterisches, sondern etwas Fundamentales und ist für jede*n einzigartig. Meine persönliche Erfahrung ist, dass ein spiritueller Zugang die mächtigste Resilienz-Quelle ist.
Frau W. hat sich „ihrem Berg“ gestellt. Schon nach kurzer Zeit nach dem Tod ihres Mannes hat sie ein Hobby der Jugendzeit, das Nähen, wieder aufgegriffen (es hatte in der jahrzehntelangen Ehe keinen „Platz“ gehabt). Neben Spaß am Hobby kamen wertvolle Kontakte zu weiteren Näherinnen und ehemaligen Freundinnen zustande. Die Kontemplation und Freude beim Nähen hätten ihr unheimlich geholfen, den neuen Zustand anzunehmen. Sie sei froh, dass sie den Mut und die Neugier für Neues (und zugleich Bekanntes) hatte. Und: sie gehe wieder in die Kirche, was sie so viele Jahre ausgesetzt hatte. Es sei wie eine Kraftquelle, sagt sie.
Frau W. meint anerkennend, dass sie viel resilienter sei als sie jemals von sich geglaubt hatte.
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