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„Mein Vater ist vor 6 Monaten gestorben. Für die Anderen geht das Leben weiter. Aber ich vermisse meinen Papa jeden Tag. Den Gedanken, dass er mich nie wieder in die Arme nehmen wird, ist unerträglich. Leider kann ich mit niemand darüber reden. Ich habe zwei Kinder und keine Kraft mehr. Danke fürs Lesen“ – Wolke4409
Diese ungefilterte, unbeschönigte Nachricht im Posteingang der Beratungsplattform hat Wucht. Mein Blick löst sich vom Monitor und schweift zum Fenster. Ich lasse mich von den Zeilen von Wolke4409 berühren. Als Koordinator für Online-Trauerberatung empfinde ich es als Privileg, Texte lesen zu dürfen, welche sich Menschen offen und pur von der Seele geschrieben haben. Rund um die Uhr wird das kostenfreie Beratungsangebot genutzt. Die Anfragen variieren in höchstem Maße in Umfang, Inhalt und Schreibstil.
Trauer so individuell wie die Menschen, die sie fühlen
So individuell wie Menschen trauern, so einzigartig ist auch ihr schriftlicher Ausdruck.
Bevor ich für Wolke4409 eine persönliche Antwort verfasse, lese ich die Nachricht mehrfach durch. Bei jedem Lesen nehme ich andere Facetten wahr. Die webbasierte Mailberatung weist einige Besonderheiten auf. Beispielsweise ist der einzige Wahrnehmungskanal, der zur Verfügung steht, der empfangene Text. Diese Wahrnehmungsreduktion ist für Viele zunächst ungewohnt. Denn die aus Gesprächssituationen bekannten Kanäle wie Mimik und Gestik fallen weg. Ich denke an eine Unterhaltung mit Regina. Sie engagiert sich seit mehr als zwei Jahren ehrenamtlich in der schriftlichen Online-Beratung. Am Anfang war das Beratungssetting für sie eine große Herausforderung. „Aus der face-to-face Trauerberatung war ich es gewohnt, mir ein Bild von den Trauernden machen zu können und z.B. das Geschlecht und das Alter zu kennen.“ Sie hielt das für relevant für die Beratungsqualität. Inzwischen hat sich ihre Perspektive verändert: „Auch wenn ich mich als vorurteilsbewusst betrachte, so bin ich doch erstaunt, wie viel neutraler ich den Ratsuchenden online begegnen kann. Ein Mensch ist in Trauer und sucht Unterstützung. Nur das ist relevant.“
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Beim Lesen der Nachricht von Wolke4409 fällt auf, dass es kaum demografische Hinweise gibt. Es steht den Ratsuchenden frei, was sie mitteilen möchten und was nicht. Viele Trauernde bleiben anonym. Persönliche Daten sind für eine Trauerberatung nicht notwendig. Denn wir sehen Trauer als eine Grunderfahrung menschlichen Lebens. Sie betrifft uns alle. Wie der Trauerprozess jedoch verläuft und erlebt wird, ist individuell.
Deutschlandweit erreichen uns monatlich im Durchschnitt 100 Beratungsanfragen. Hinter jeder Nachricht verbirgt sich ein ratsuchender Mensch mit einzigartigen Gefühlen und Gedanken. Oder mit anderen Worten: „Alle Trauernden sind sozusagen ein Unikat und damit immer wieder Neuland für Trauerbegleitende“.1
Ein antwortendes Tagebuch der Trauer
Viele Menschen trauern um ihren verstorbenen Vater, aber niemand hat das gleiche Erleben wie Wolke4409. Auch wenn in der Nachricht weder eine Frage gestellt noch ein Beratungswunsch geäußert wird, so wurden für die aktuelle Situation Worte gefunden. Allein das Niederscheiben schafft bei vielen Ratsuchenden eine Selbststrukturierung und Selbstreflexion. Das ist wohl auch der Grund, warum zahlreiche Menschen Tagebuch schreiben. Die schriftliche Online-Beratung ist mit diesem Schreibprozess vergleichbar und kann daher auch als „antwortendes Tagebuch“ gesehen werden. Oder wie es eine Trauernde kürzlich formuliert, hat: „Danke, dass ich Ihnen regelmäßig von meiner Trauer schreiben darf. Nach dem Abschicken meiner Nachricht fühle ich mich stets klarer und gefasster. Es tut gut zu wissen, dass Sie da sind, meine Worte lesen und mir antworten.“2
Ich formuliere die ersten Sätze an Wolke4409 und denke an eine weitere Besonderheit der Schreibberatung, welche die Professorin für Digitale Transformation Emily M. Engelhardt in Ihrem Buch Lehrbuch Onlineberatung darstellt: „Der gesamte Beratungsprozess ist Wort für Wort dokumentiert.“3 Das bedeutet, dass jedes Wort, dass ich an Wolke4409 richte, protokolliert ist. Gleichzeitig heißt das auch, dass ich auf meine versendeten Worte keinen Einfluss mehr nehmen kann. Über diesen Aspekt hatte ich ein Gespräch mit Bernd. Er ist ehrenamtlich sowohl in der Online-Trauerberatung tätig als auch bei einem ambulanten Hospizdienst. „Das Absenden einer Nachricht ist für mich immer auch mit einer gewissen Aufregung verbunden. In der analogen Beratung kann ich an der Mimik sehen, wie meine Worte ankommen.“ Diesen visuellen Wahrnehmungskanal gibt es in der textuellen Beratung nicht. Inzwischen sieht Bernd diesen Aspekt jedoch als „Erinnerung zur Langsamkeit und Achtsamkeit“. „Bevor ich eine Nachricht abschicke, überarbeite ich sie meist mehrfach oder lasse sie auch mal eine Weile ruhen, bevor ich sie absende.“
Die passenden Worte finden
Das ist ein wichtiger Punkt, denn eine Schreibberatung verläuft asynchron. Wolke4409 hat die Erstanfrage abgeschickt und unser Versprechen ist es, dass darauf innerhalb von 48 Stunden geantwortet wird. Ein Zeitfenster zwischen versendeter Nachricht und erhaltener Antwort ist eine bewusste Entschleunigung des Beratungsprozesses. Eine Trauernde beschrieb das ganz passend: „Ich kann es meist kaum abwarten, bis ich wieder eine Nachricht von Ihnen erhalte. Doch die Pause dazwischen ermöglicht mir auch, Ihre Worte wirken zu lassen. Meistens lese ich Ihre Nachrichten mehrfach durch.“4
Auch ich lese meine Zeilen an Wolke4409 zum wiederholten Mal. Mir ist klar, dass eine schriftliche Trauerberatung nicht für jeden Mensch das Passende ist. Aber woher kann ich denn wissen, dass es für Wolke4409 das Richtige ist? Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Wolke4409 hat auf dem schriftlichen Weg Kontakt aufgenommen und meine Aufgabe ist es, gemeinsam mit Wolke4409 herauszufinden, ob und wie ich unterstützen kann. Auch wenn jeder Mensch Experte für seine Lebenswelt ist, so kann der Austausch mit einer neutralen Person hilfreich sein und einen Perspektivwechsel ermöglichen.
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Vielleicht braucht Wolke4409 jemanden, der dabei hilft, der Trauer Raum zu geben – jemanden, der den Verlust anerkennt, Impulse zum Umgang mit der Trauer gibt oder bei der Suche nach Trauerangeboten in der Umgebung unterstützt. Bei allem bin ich gerne behilflich.
In der Erstanfrage hatte Wolke4409 über die aktuelle Trauersituation geschrieben: „leider kann ich mit niemand darüber reden“. Der Wunsch nach Austausch wird hier deutlich, denn Menschen sind Beziehungswesen. In der Onlinetrauerberatung fungiert die Technik als Hilfsmittel, als Brücke zwischen zwei Menschen. Sie ermöglicht es, dass zwischen Wolke4409 und mir ein zeitlich und örtlich flexibler Schreibdialog entstehen kann. Ich lese meine Antwort an Wolke4409 ein letztes Mal durch bevor ich sie absende und denke dabei: Vielleicht kann Wolke4409 mit niemandem über ihre Erlebnisse sprechen, aber vielleicht kann sie mit mir darüber schreiben.
Der Name Wolke4409 und die aufgeführten Nachrichten sind fiktiv, aber von echten Beratungen inspiriert. So soll die Arbeit der Trauerbegleitung per Chat beispielhaft vorgestellt werden.
Quellen:
- Haller, Susanne; Reinalter, Martina: Trauernde begleiten, 1. Auflage, 2023, S.15
- Das Zitat ist eine sinngemäße Wiedergabe der ursprünglichen Aussage.
- Engelhardt, Emily M.: Lehrbuch Onlineberatung, 2. Auflage, 2021, S.64
- Das Zitat ist eine Paraphrase der ursprünglichen Aussage.
Zum Autor:
Kian D. Bank ist Koordinator für Onlineberatung bei Via. Trauer neu denken., einem Angebot der Malteser. Seit 2016 ist er mit großer Freude in verschiedenen Tätigkeitsfeldern in der Hospiz- und Trauerarbeit tätig.
Mehr Informationen: https://www.via-trauerbegleitung.de/ und www.instagram.com/malteser_hospizarbeit