Wer namenlos begraben liegt, kann nicht betrauert werden
Für das Stuttgarter Ordnungsamt war es ein Vorgang unter vielen. Ein Mensch war gestorben. „Wolle“ haben seine Freunde ihn genannt. Denn obwohl der Künstler Wolfgang Pucks einige Jahre seines Lebens auf der Straße gelebt hatte, gab es viele Freunde, die trauerten, als er überraschend mit nur 56 Jahren starb. Unmittelbare Angehörige ließen sich allerdings nicht finden, weshalb das Amt eine ordnungsbehördliche Bestattung anordnete. Der Tote wurde verbrannt und die Urne in einem anonymen Gräberfeld beigesetzt – ohne Namen, ohne persönlichen Gruß jener, die ihn kannten. Wolles Freunde und Weggefährten hätten gern einen Ort zum Trauern gehabt; den aber sieht das Gesetz nicht vor für Menschen ohne Angehörige und Freunde, die nicht über die nötigen Geldmittel verfügen.
Wer namenlos begraben liegt, kann nicht betrauert werden
//Francis Seeck, Kulturanthropologin
„Wer namenlos begraben liegt, kann nicht betrauert werden“, meint Francis Seeck. Die Kulturanthropologin weiß, wovon sie spricht. Als ihr Vater starb, haben die Behörden sie nicht benachrichtigt, obwohl ihr BAföG-Antrag im Briefkasten des Vaters gelegen hatte. Seine Hinterlassenschaften wurden entsorgt und er anonym beigesetzt. In ihrem Buch „Recht auf Trauer“ erzählt Francis Seeck nicht nur ihre Geschichte, sondern macht auch deutlich, dass die Form der Beisetzung mit finanziellen Mitteln zu tun hat: Wer es sich nicht leisten kann, verschwindet, als habe es ihn nie gegeben. Hätte man Wolle oder den Vater von Francis Seeck gefragt, wie sie beigesetzt sein wollten, hätten sie sich vielleicht tatsächlich ein anonymes Grab gewünscht – aber sicher nicht, weil sie sang- und klanglos im Nichts verschwinden wollten. Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine anonyme Beisetzung, weil sie ihren Hinterbliebenen nicht Kosten und Grabpflege zumuten wollen – so, wie die Pflege Älterer oder Kranker ja auch nicht mehr selbstverständlich von Angehörigen übernommen werden kann.
Der Individualismus verändert den Umgang mit dem Leben – und dem Tod
Auch wenn es Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt, das klassische Grab auf dem Friedhof hat nicht mehr die Bedeutung, die ihm frühere Generationen beimaßen. Selbst wenn man nicht zu den begüterten Familien gehörte, die ein großes Familiengrab besaßen, war es doch selbstverständlich, dass Verstorbene „zu Grabe getragen“ wurden – und der Name auf dem Stein an sie erinnerte.
Die Veränderungen der Gesellschaft wirken sich auch auf den Umgang mit dem Tod aus. Der Individualismus hat neue Formen der Bestattung hervorgebracht. Trauerfeiern werden immer stärker am Leben und am Charakter der Verstorbenen ausgerichtet. Zum klassischen Grab sind Baumgräber gekommen, bei denen Schildchen am Baum an den Toten erinnern oder anonyme Rasenbeisetzungen. Das Bedürfnis der Hinterbliebenen zumindest eine Blume nahe des Beisetzungsortes zu hinterlassen ist groß und findet bei diesen Varianten keine Berücksichtigung. Dieser improvisierte Blumengruß am Baumgrab (siehe Foto) wird von der Friedhofverwaltung manchmal toleriert, ist aber offiziell verboten.
Ein kleines Schild mit Blumengruß erinnert an den Verstorbenen
Das Grab – der zentrale Trauerort
Auch wenn sich Wolles Freunde einen Ort zum Trauern gewünscht hätten, verliert der Friedhof, der seit Jahrtausenden in so vielen Kulturen ganz selbstverständlich ein Ort des Gedenkens war, zunehmend seine Akzeptanz. Thorsten Benkel und Matthias Meitzler sprechen sogar von einem „einschneidenden Traditionsbruch“ und einem „unüberhörbaren Ruf nach Erneuerung“. Die Sozialwissenschaftler haben den gesellschaftlichen Wandel des Friedhofs untersucht und festgestellt, dass der Friedhof oft negativ als Ort der „Verbote und der Fremdbestimmtheit“ erlebt werde. Den Menschen fehle oft der Spielraum für ihre individuellen Wünsche. Aus diesem Grund haben auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und der Kunstgießerei Strassacker zwei deutsche Hochschulen 2019 einen Ideenwettbewerb für Studierende der Landschaftsarchitektur, Architektur und Stadtplanung ausgelobt. Die Teilnehmer sollten Ideen entwickelten, wie man den Bedürfnissen der Trauernden auf dem Friedhof besser gerecht wird.
Der Friedhof der Zukunft soll wieder zum zentralen Trauerort werden können
Alfred B. geht regelmäßig ans Grab seiner verstorbenen Frau. Der Achtzigjährige hat nach ihrem Tod noch einmal geheiratet, trotzdem schaut er auf dem Friedhof oft nach den Blumen, wechselt die Batterien der elektrischen Kerze oder macht den Grabstein sauber. Natürlich trage er die Erinnerungen an seine erste Frau mit sich, sagt er, aber am Grab selbst sei sie ihm näher als im Alltag. Für viele Menschen ist der Friedhof das neue Zuhause der Verstorbenen, an dem sie letztlich weiterleben, deshalb spricht Alfred B. am Grab auch selbstverständlich mit seiner Frau. Er sagt, es sei ein Dialog.
Das Mit-Leiden der anderen hilft bei der Trauer
Gesellschaftliche Konventionen können einengen, weil sie vorgeben, wie man sich zu verhalten hat. Sie können aber auch Halt geben im rituellen Tun, weil sie uns zeigen, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind, eingebettet in die großen Zeitläufe, zu denen auch das Sterben gehört. So geben die Bestattungsrituale der Trauer einen Raum. Auf der Trauerfeier ist es erlaubt, zu weinen, sich gegenseitig zu halten, zu stützen und Beileid auszusprechen. Die Trauernden werden zu einer Gemeinschaft, die der Verlust verbindet – und die Empathie hilft beim Trauerprozess.
Auch wenn mehr Menschen eine Zeit lang verstärkt anonym begraben sein wollten und der Friedhof an Bedeutung verloren hat – die Trauer bleibt. Selbst wenn es immer noch Ärzte gibt, die bei trauernden Patienten „Depression“ in die Karteikarte schreiben, ist Trauer ein normaler Zustand und keine Krankheit. Der amerikanische Trauerforscher William J. Worden formulierte 1982: „Man muss den Tod anerkennen, den Schmerz verarbeiten, sich in der neuen Wirklichkeit zurechtfinden und schließlich ein Leben beginnen, in dem der Verstorbene einen neuen, festen Erinnerungs-Platz bekommt“. Trauer zu verarbeiten ist ein Prozess, der Zeit braucht; das Wissen darum muss wieder in das gesellschaftliche Bewusstsein gerückt werden. In früheren Generationen räumte man Hinterbliebenen ganz selbstverständlich ein Trauerjahr ein. So, wie man von einem Schnupfen erwartet, dass er nach drei Tagen wieder verschwunden ist, so scheinen Trauernde unter dem Druck zu stehen, bald wieder zur Tagesordnung zurückkehren, in der Gesellschaft funktionieren zu müssen – und diese nicht mit dem anhaltenden Schmerz zu behelligen.
Wer sich dafür entscheidet, sich anonym beisetzen zu lassen, macht sich oft nicht bewusst, dass er die Hinterbliebenen damit um die Möglichkeit bringt, am Grab einen Teil des Schmerzes zurücklassen zu können. Deshalb ist längst ein Netz professioneller Hilfestellung entstanden – von der professionellen Trauerbegleitung bis zur Klinik für Trauerbewältigung. „Die Anonymität der namen- und zeichenlosen Beisetzung und die halbanonyme Grabstätte funktionieren für eine gelingende Trauerbewältigung nicht“, hat eine Studie des Zukunftsinstituts Matthias Horx ergeben. Sie seien eher hinderlich bei der Verarbeitung des Schmerzes. Wohl deshalb müssen die Friedhofsverwaltungen regelmäßig die zahllosen Blumengrüße und Erinnerungsstücke entfernen, die Hinterbliebene auf den anonymen Grabflächen dann eben doch hinterlassen – auch wenn sie sich ursprünglich für eine namenlose Beisetzung entschieden hatten.
Offensichtlich suchen die Menschen doch die Nähe zum Verstorbenen auf dem Friedhof, damit sich im Verbundensein der Trauerschmerz wandeln kann.
Trauerhandlungen sind ein ganz zentrales Mittel der Aktualisierung von persönlicher Nähe zum Verstorbenen. Neben sozialen Bindungen und Netzwerken hat der Ort der Beisetzung dafür, wie zur Bewältigung der Trauer insgesamt, eine hohe Bedeutung. Das Stuttgarter Friedhofsamt hat, ausgelöst durch den Protest von Wolles Freunden vor, zumindest eine Tafel aufzustellen, auf der die Namen jener aufgeführt werden sollen, die auf dem großen Gräberfeld „ordnungsbehördlich“ bestattet werden. Auch wenn es kein individuelles Grab ist, könnten die Hinterbliebenen so wenigstens Blumen ablegen.
Wolles Freunde haben inzwischen in der Stuttgarter Galerie Sichtbar, in der der Künstler oft ein- und ausging, einen Ort der Erinnerung eingerichtet mit einer Zeichnung von Wolle. Die Chancen stehen gut, dass die Mittel im nächsten Haushalt bewilligt werden und in Stuttgart ab 2022 auch arme Menschen wie Wolle nicht mehr sang- und klanglos verschwinden. Denn selbst wenn Verstorbene keine Angehörigen haben sollten, könnte es durchaus Freunde und Weggefährten geben, die sich eben doch einen Ort zum Trauern wünschen.