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Trauer und Elternhausfotografie

In „Stiller Trauer“, „In Gedenken an“. Mit diesen Worten nehmen wir teil an der Trauer anderer Menschen und drücken so unser Beileid aus. Aber müssen sich Trauer und Erinnerungen ausschließlich auf Menschen beschränken?

Trauer und Elternhausfotografie

© Jörg Egerer

Trauer ist eine innere Gefühlslage, die sich auch auf andere Lebewesen und auf Dinge und Sachverhalte beziehen kann. Sie ist eine Verlusterfahrung. Der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust eines Haustieres oder der Verlust des Arbeitsplatzes.

Verlust von Stabilität und Sicherheit

In allen Fällen haben wir etwas verloren, das bisher Bestandteil unseres Lebens war und diesem Stabilität und Sicherheit gab. Der Verlust schlägt eine Lücke in unseren gewohnten Lebensfluss und kann unser weiteres Leben eine gewisse Zeit lang hemmen, zumindest in unseren Gedanken beeinflussen:

Wird uns nach dem Tod der Eltern nicht auch bewusst, dass unsere eigene Kindheit endgültig beendet ist? Dass auch unser eigenes Leben endlich ist und wir als nächstes „dran“ sein werden? Und müssen wir nicht auch mit den Konflikten und Vorwürfen, die wir unseren Eltern gemacht haben, von nun an alleine fertig werden?

Spätestens nach dem Tod unserer Eltern findet die endgültige Abnabelung vom Elternhaus statt, welches nach dem Auszug aus dem Jugendzimmer in ein eigenes Leben dennoch weiterhin Treffpunkt für die Zusammenkunft aller Familienmitglieder war.

In jedem Fall ist es wichtig, mit dem Verlust und der Trauer offen umzugehen und sich diese einzugestehen. In vielen Fällen heilt die Zeit die Wunden, sagt man. Unterstützend können Erinnerungen an die Zeit vor dem Verlust helfen, den neuen Zustand anzuerkennen und beim Trauern zu helfen.

© Jörg Egerer

Fotos helfen, Trauer zu erfahren

Laut einer Umfrage schauen sich ca. 85 Prozent der Deutschen Fotos von Verstorbenen an, um Trost zu erfahren oder sich an sie zu erinnern. Dies können Porträts der Verstorbenen, Familienfotos oder Bilder von der Beerdigung sein. Erst nach dem Tod meines Vaters wurde mir bewusst, dass auch Fotos vom eigenen Elternhaus besondere Erinnerungen bewahren.

Die Idee, mein eigenes Elternhaus zu fotografieren bekam ich, als mein Vater im Frühjahr 2020 wegen seiner fortschreitenden Demenzerkrankung in ein Pflegeheim umziehen musste. Intuitiv fotografierte ich in diesem Zeitraum unser leerstehendes Elternhaus zur privaten Erinnerung.

Erst nach dessen Räumung wurde mir klar, dass ich mit meiner Kamera ein Thema dokumentiert habe, das viele Menschen bereits durchlebt haben oder ihnen noch bevorsteht – die Räumung ihres Elternhauses.

Mit meiner Elternhausfotografie konserviere ich Erinnerungen an verstorbene Eltern und die eigene Kindheit, die ansonsten nach der Räumung unwiederbringlich verloren wären.

Der Wert meiner persönlichen Elternhausfotos

Je weiter der Tod meines Vaters in die Vergangenheit rückt, desto wertvoller werden die Fotos meines Elternhauses. Wie in vielen anderen Familien auch wurden Alben von mir als Kind angelegt und Fotos während der gemeinsamen Urlaube und auf Familienfesten aufgenommen. Es waren sehr glückliche Zeiten und ich bin sehr froh, diese Erinnerungen zu haben. Als Fotograf habe ich natürlich auch während der Trauerzeremonie und die Beisetzung fotografiert.

Dennoch sind meine Elternhausfotos die intensivste Erinnerung an meine Familie und meine Kindheit. Vielleicht liegt es daran, dass diese Bilder die Spuren authentischen Lebens in natürlicher Umgebung zeigen? Oder auch daran, dass sie Geschichten erzählen, die Jahre und Jahrzehnte zurück reichen?

© Jörg Egerer

Zwei Aufnahmen meines Elternhauses habe ich in mein Arbeitszimmer aufgehängt und schaue sie auch während des Schreibens dieses Textes immer wieder an. Eines davon zeigt den bunten Gartenzwerg neben einem Krug, in dem längst vertrocknete Blumen stehen. Mein Vater hat sie sicherlich nur wenige Tage vor seinem Umzug in das Pflegeheim gepflückt und dort hineingestellt. Er hat seinen Garten geliebt und saß auch an bewölkten Tagen gerne auf diesem Stuhl um in den Garten zu sehen. Er sagte oft: „Das ist Lebensqualität“.

Fotos wie diese stecken voller Erinnerungen, die sich in meinem Kopf automatisch abspielen. Erinnerungen, die nicht direkt abgebildet sind, sondern aktiv dazu auffordern sich in die Vergangenheit zurück zu versetzen.

Spuren der Verstorbenen

Mein Konzept, mit dem ich mein Elternhaus fotografierte bestand darin, weniger die einzelnen Räume in ihrer Totalen zu fotografieren, wie es für gewöhnlich ein Immobilienfotograf macht.

Bei der Elternhausfotografie geht es darum Orte und Gegenstände zu fotografieren, die für die Angehörigen zur Erinnerung oder Trauer an die Verstorbenen wichtig sind. Räume wurden bewohnt und Gegenstände benutzt – beides hinterlässt Spuren, Spuren der Verstorbenen. Häufig sind es Orte im Haus, an denen sich die Familienmitglieder getroffen haben, wie etwa im Esszimmer oder Wohnzimmer.

Aber auch bestimmte Gegenstände können Erinnerungen bewahren wie etwa die Werkbank des Vaters, an dem er nach der Arbeit und am Wochenende so leidenschaftlich gern gewerkelt hat oder der schöne Blumengarten, den die Mutter stets gehegt und gepflegt hat, nun aber schon verwelkt ist.

Kinder verbinden mit bestimmten Orten oder Gegenständen Erinnerungen an ihre eigene Kindheit. Der Sandkasten im Garten, der inzwischen zugewuchert ist, aber dennoch voller Erinnerungen steckt. Oder der Blick aus dem ehemaligen Kinderzimmer in den Garten oder auf die Straße, obwohl es längst einem Gästezimmer gewichen ist.

Grundlegende Tipps für die Elternhausfotografie

Wenn Sie Ihr Elternhaus selbst fotografieren möchten, finden Sie nachfolgend grundlegende Tipps für gelungene Fotos:

  • Gehen Sie zunächst ohne Kamera durch Ihr Elternhaus
  • Achten Sie auf Ihre Gefühle, wenn Sie bestimmte Räume betreten oder Gegenstände sehen.
  • Vergessen Sie auch nicht den Garten und die Ansicht des Hauses von der Straßenseite.
  • Verweilen Sie dort einige Zeit und werden Sie sich über Ihre Empfindungen im Klaren.
  • Welche Eigenarten oder Hobbys hatten Ihre Eltern? Was war typisch für Ihre Eltern? Gab es bestimmte Rituale, die regelmäßig wiederholt wurden?
  • Erst wenn Sie Ihre Erinnerungen sortiert und die Atmosphäre des leerstehenden Hauses erfasst haben, holen Sie Ihre Kamera.
  • Vermeiden Sie es, in der Totalen zu fotografieren. Konzentrieren Sie sich lieber auf konkrete Stellen oder Gegenstände im Raum.
  • Fotografieren Sie möglichst formatfüllend, in dem Sie näher an den Gegenstand herangehen.
  • Machen Sie von jedem Motiv mehrere Fotos, aus verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln, auch abwechselnd im Hoch- und Querformat für die spätere Auswahl.
  • Vermeiden Sie, Ihre Fotos zu inszenieren. Lassen Sie Gegenstände dort liegen und stehen, wo Sie sie vorgefunden haben. Wenn Sie die Lage verändern wissen Sie das später beim Betrachten der Fotos.

© Jörg Egerer

Beispiele besonderer Motive

  1. Küchentisch am Fenster, an dem die Familie gefrühstückt hat
  2. Blick aus dem ehemaligen Kinderzimmer auf die Straße
  3. Kellerraum mit alten Koffern der Eltern
  4. Bierkrug, aus dem der Vater abends sein Bier trank
  5. Werkstück aus Holz, das man selbst als Kind im Werkunterricht gebaut hat
  6. Ohrensessel mit den abgenutzten Armlehnen
  7. Blumengarten und Gartengeräte der Mutter
  8. Ecke im Wohnzimmer, in der immer der Weihnachtsbaum aufgestellt wurde und noch Wachsspuren zu sehen sind
  9. Schminkspiegel und Lippenstift im Badezimmer
  10. Sandkasten im Garten der inzwischen zugewuchert ist

Meine Elternhausfotos in öffentlichen Ausstellungen

Seit dem Tod meines Vaters sind nun gut 3,5 Jahre vergangen. Bis heute habe ich meine Fotos in zahlreichen Ausstellungen gezeigt und Vorträge gehalten. Es kamen nicht nur Töchter und Söhne die bereits ihr Elternhaus geräumt haben oder es ihnen noch bevorsteht. Auch ältere Menschen schauten sich meine Ausstellungen an und erzählten mir, manchmal unter Tränen, sehr persönliche Dinge, um sich vorzubereiten. Von der Offenheit mir gegenüber bin ich immer wieder beeindruckt und sehe daran, wie emotional tief das Thema „Elternhaus räumen“ in der Gesellschaft verankert ist.

Mich selbst erfüllt es mit Glück ein neues Genre der Fotografie gefunden zu haben, mit der ich anderen Menschen in ihrer Trauer und Erinnerung helfen kann.

Zum Autor:
Jörg Egerer arbeitet als freiberuflicher Fotograf im Raum München und ist Mitglied im Berufsverband Bildender Künstlerinnen und Künstler München und Oberbayern e.V. Seine künstlerischen Fotografien wurden national und international ausgezeichnet und ausgestellt. Daneben fotografiert er im kommerziellen Bereich und gibt sein fotografisches Wissen in seinen Fotokursen weiter.

Mehr Informationen: https://elternhausfotografie.de/

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