© Achim Eckhardt @aeck_photography, Campus Vivorum
Einsamkeit entsteht, wenn die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Der empfundene Mangel kann sich sowohl auf die Zahl der Kontakte als auch auf die Tiefe und Enge der Bindungen beziehen. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, daher sind die Ursachen für Einsamkeit individuell und lassen sich nur schwer verallgemeinern.
Von Einsamkeit sind sowohl ältere als auch jüngere Menschen betroffen. Besonders gefährdet sind Menschen in Übergangssituationen im Leben, wie dem Einstieg in Studium, Ausbildung, Beruf und Rente oder wenn die Person von einem Schicksalsschlag ereilt wird, etwa einer Trennung oder dem Verlust eines geliebten Menschen.
Der Verlust eines geliebten Menschen
Dieser Lebenssituation wollen wir uns zuwenden: dem Verlust eines geliebten Menschen durch Tod.
Carl Gustav Jung sagte einmal: „Einsamkeit entsteht nicht dadurch, dass man keine Menschen um sich hat, sondern dadurch, dass man ihnen die Dinge, die einem wichtig erscheinen, nicht mitteilen kann.“
Trauernde Menschen fallen mit dem Tod eines nahen Angehörigen wie aus dem Leben und aus ihrer Zeit. Selbst wenn es scheint, dass das Überleben funktioniert und die Kraft der Seele einen schützt, um das Ausmaß des Verlustes nicht unmittelbar bei Eintritt des Todes erkennen zu müssen. Es gleicht einer „Glocke“, wie eine Mutter nach dem Tod ihres Kindes anschaulich beschreibt, ehe sich auf dem Trauerweg ein Begreifen zeigt, das den Trauerschmerz vertiefen kann und das Gefühl von Einsamkeit und Verlassensein dann sich in die Seele einbrennt, wenn die Welt drumherum längst annimmt, die Trauer „sei überwunden“.
Die ersten Tage nach dem Verlust
Am Anfang sind „alle“ noch da, mit Anteilnahme und bei Besuchen. Es tut gut, umfangen zu sein von Mitgefühl, manchmal auch Ansagen, wie man denn nun zu trauern habe. Sowohl Menschen sind da, als auch der verstorbene Angehörige. Gefühlt ist er nahe, als ob er jeden Augenblick zur Türe hereinkommen oder anrufen würde. Den Tod zu begreifen, so eine Einsicht der Trauerforschung, etwa bei Verena Kast, Ruthmarijke Smeding, William Worden und Chris Paul, kann lange dauern. Was beim Abschied in der Berührung des Verstorbenen beginnen kann, was bei der Beerdigung rituell vollzogen wird, braucht die Zeit des Begreifens. Eine Zeit, in der trauernde Menschen Tag für Tag versuchen zu überleben, um im Alltag funktionieren zu können. Das ist wirklich Schwerstarbeit, den Tag zu überleben, weil darin unmittelbar die Frage nach dem Sinn wohnt: Warum überhaupt noch aufstehen und wozu die Anstrengung?
Mit dem Tod leben lernen
„Allein, den Tod den stirbt man […] doch mit dem Tod des anderen muss man leben“, so Mascha Kaleko in ihrem Gedicht „Memento“. Mit dem Tod leben lernen gleicht eher einer Kunst des Überlebens.
„Ich bin ganz allein.“ Häufig hören wir diesen Satz. Als Nachbarn, die einen Besuch machen, als erwachsene Kinder, die ihren Vater oder Mutter besuchen, als Freund:innen, Begleiter:innen. „Ich bin doch da“, möchte man sagen, sagt das vielleicht auch und hört erneut die Klage, so allein zu sein. Allein meint, dass der verstorbene Mensch fehlt. Eine Lücke hinterlässt, die unablässig wie ein stummer Schmerz ins Leben schreit. Vielleicht sind die Worte von Dietrich Bonhoeffer sogar schon bei der Trauerfeier gesprochen und in dem Augenblick als tröstlich empfunden worden. Wochen und Monate später kann die Erfahrung von Einsamkeit alles wieder in Frage stellen.
„Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren.“
Die wachsende Lücke im Alltag
„Aller menschliche Schmerz ist letztlich Trennungsschmerz, ist Sehnsucht des Teils nach dem Ganzen, nach der Überwindung des Urleidens der Einsamkeit. Wir haben eine Ahnung vom Ganzen behalten und das weckt die Sehnsucht in uns. Der Name, den wir unserer Sehnsucht nach Einheit gegeben haben, ist Liebe.“ (Willigis Jäger)
Was wie ein Widerspruch klingen mag, ist das Geheimnis der Trauer. Trauer ist ein anderes Wort für Liebe. Aus Liebe geschmerzte Einsamkeit findet Momente des Alleinseins und eine Verbindung, die immer zum Leben gehören und bleiben werden.
Dieses „Nichts-ist-mehr-wie-zuvor“, dieses wie aus dem Leben und der Zeit gefallen sein, und die Wahrheit, nicht mehr in der bisherigen Art zur Gemeinschaft zu gehören, wecken Sehnsucht nach Liebe. Es ist der Tod selbst, der eine Einsamkeit hervorbringt, die zuvor nicht gedacht und worauf sich niemand vorbereiten kann. Die Einsamkeit des Verlustes und die der eigenen Sterblichkeit.
Der amerikanische Psychologe Clark Moustakas beschreibt existenzielle Einsamkeit als einen unvermeidbaren Teil des Lebens, der im Zusammenhang mit existenziellen Erfahrungen wie Geburt oder Tod entsteht.
Die Brücke der Begegnung und der Gemeinschaft
Was tragen kann, ist die Brücke der Begegnung, des Miteinander in einem sozialen Netzwerk.
Das Alleinsein bleibt, und auch Einsamkeit, die nicht durch Aktionen überspielt werden kann. Was helfen kann, ist dieses sich lösen dürfen aus der Isolation, die keiner Verbindung mehr traut. Alleinsein und Einsamkeit folgen der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die Grundquelle von Leid darin ist die Isolation. Der Schmerz, dass man anderen Menschen die Dinge, die einem wichtig erscheinen, nicht mitteilen kann.
© Achim Eckhardt @aeck_photography
Eine Brücke kann eine heilsame Erfahrung sein. „In der Trauerbegleitung haben wir deshalb in den letzten Jahrzehnten das Dogma des ‚Loslassens‘ abgeschafft und die Verbundenheit mit den Verstorbenen in den Vordergrund geholt. In der Arbeit und auch bei mir selbst habe ich gemerkt, dass es nicht reicht, den Verstorbenen nah und verbunden zu sein. Die Verbindung zu sich selbst ist die Voraussetzung für jede andere Bindung! Und mit ihr werden Verbindungen zur Natur, zu spirituellen Räumen und zu lebenden Menschen, auch Tieren, möglich.“ (Chris Paul, 2024 im Facebook)
Am Beispiel einer regelmäßig stattfindenden Trauergruppe bzw. eines Lebenscafés (denn Trauer ist Leben!) durfte ich das immer wieder hören. Dieses regelmäßige Angebot (z.B. einmal im Monat oder auch in kürzeren Abständen) öffnet einen Raum, in dem der Gast sich tagelang genährt fühlt aus der Begegnung mit Menschen „denen es auch so geht“ und sich dann auf die neue Begegnung freut. Gleichzeitig erfahren Gäste in der Gruppe oder im Café oder auf einem Spazierweg, dass das, was sie erleben, Ausdruck ihrer Lebenssituation und ihrer je eigenen Persönlichkeit ist, ihren Weg ohne den geliebten Menschen zu gehen.
Gemeinschaft und Begegnung als Quelle des Lebens
(Lebens)Café meint Gemeinschaft als sicheren Ort, in dem „Überleben und Sinn“ Leben wecken kann. Gemeinschaft und Stille ergänzen sich, ebenso wie Mahlgemeinschaft und Bewegung.
„Denn wenn ein Ich sich in einem Du zu spiegeln traut, dann gibt diese Beziehung dem einzelnen Menschen Kraft und schenkt ihm Glauben.“ (Psychotherapeut Peter Schellenbaum)
Gäste fühlen sich verstanden, da die Unkenntnis über Trauerverläufe derer, die „mit gutem Rat“ zur Seite stehen wollen, geradezu in die Einsamkeit und Isolation treiben kann.
„In unserer Gesellschaft ist noch viel zu wenig über Trauer bekannt, wodurch es leider immer wieder zu Verletzungen von trauernden Menschen im sozialen Umfeld kommen kann.“ (Trauerbegleitung und Beratung Iris Willecke in Facebook am 1.7.2024 und in ihrem Heft „Trauerwissen kurz und knapp“)
Bei häufig gehörtem „das wird schon wieder“, oder „es ist doch jetzt schon eine Zeit vergangen“ oder „denk doch an deine Familie“… verstummen trauernde Menschen, ziehen sich in sich selbst zurück, schützen sich vor Verletzungen und können vereinsamen. Eine Frau bekommt von der Nachbarin schon vor der Beerdigung ihres Ehemannes den „gut gemeinten“ Hinweis auf ein Trauercafé, in das sie unbedingt gehen soll. „Nächste Woche nehme ich Sie mit!“ Das ist sehr nett und lässt zugleich die Frage, was ihr dient, überhaupt nicht zu. Weil die anderen, die Nachbarn, das ja schon wissen. Unkenntnis über Trauerverläufe und Gutmeinen liegen nah beieinander und wecken die Vermutung, dass an diesem Beispiel die Nachbarin es mit ihrer „Hilfe“ besser aushält, wenn Trauer so verläuft, wie sie es sich gerne zurechtdenken möchte.
Auch das bringt Einsamkeit hervor, die des nicht verstanden Seins. Wer soll auch verstehen, wie ich empfinde? „Alles ist anders“ sagt die Frau am Tag der Beerdigung als Resümee der zurückliegenden Tage seit dem Tod ihres Mannes eine Woche zuvor.
Eine andere Frau erzählt: diese Erwartung schon zu Beginn eines undenkbaren Weges nach dem plötzlichen Tod meines Mannes machte mich sprachlos. Umfing mich in Wortlosigkeit, dem Gefühl, unverstanden zu sein. Dieser Druck der anderen, es müsse ja nun vorangehen, besonders dann, wenn ich das tue, was sie für richtig halten, entfremdet, statt dass eine Verbindung Halt geben kann.
Mitgefühl und Verbundenheit als Brücke
Ja, Mitgefühl und Verbundenheit sind die zu bauenden Brücken zwischen mir und dir und der Welt. Und das braucht ein offenes Herz für das, was geschieht und was für den trauernden Menschen wie für die Umwelt manchmal kaum aushaltbar ist.
Trauer ist die Lösung und nicht das Problem. (Chris Paul)
Ich erinnere mich, als mein Vater starb. Da haben die anderen meiner Mutter empfohlen, sie solle jetzt ihr ehrenamtliches Engagement bei psychisch kranken Menschen unterbrechen, das tue ihr nicht gut. Sie folgte diesem Rat nicht und fühlte sich gerade in diesem Kreis wohl, und ihren Tränen wurde nicht Einhalt geboten, sondern Raum und Verständnis gewährt.
Und viele Jahre war der alltägliche Gang auf den Friedhof ihrem neuen Lebensrhythmus zugehörig. „Die rennt ja immer noch auf den Friedhof“, sagten dann „Nichtwissende“ und grenzten mit einer solchen wertenden Bemerkung den trauernden Menschen erneut aus.
Friedhöfe als Fürsorgliche Infrastruktur und Orte der Begegnung und Gemeinschaft
Die Initiative der Bundesregierung gegen Einsamkeit kann durchaus als Brücke verstanden werden. Eine soziale Verbindung, die Schmerz zu lindern vermag. Viele Angebote dafür gibt es aktuell in Städten und Gemeinden. Vieles sind hervorgegangen und beheimatet in den Hospizinitiativen, viele andere erstehen in den Social Media als Angebote und als Einladung „neuer“ Impulse.
© Achim Eckhardt @aeck_photography, Campus Vivorum
Günter Czasny, Sprecher der Initiative ‚Raum für Trauer‘: „Wenn wir gemeinsam die Friedhöfe menschenzugewandt in die Zukunft entwickeln, werden diese innerhalb der Stadtentwicklung ein Raum für die persönliche Trauer und ein Begegnungsort, der das soziale Füreinander, das gesellschaftliche Miteinander und den Zusammenhalt der Menschen in den Kommunen und Gemeinden fördern und stärken kann.“
Es gelte, so Czasny, die Trauerkompetenz der Kommunen und Kirchen neu zu entdecken. In einer Zeit, in der Gemeinschaft und sozialer Zusammenhalt immer wichtiger werden, könnte der Friedhof als Caring Infrastructure (fürsorgliche Infrastruktur) zunehmender Einsamkeit entgegenwirken und zum neuen sozialen Kern unserer Kommunen werden, nimmt er Bezug auf das im Mai vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgelegte Einsamkeitsbarometer 2024.
So stehen wir wieder am Anfang meiner Gedanken und dem aktuellen Anliegen der Bundesregierung. Sie selbst sind es, die ihre Geschichte weiterschreiben werden.
Schlussgedanken: Der Weg zur Heilung
Trauer ist ein lebenslanger Prozess, der nicht allein durch den Verlust geprägt ist, sondern auch durch die Einsamkeit, die daraus resultiert. Die Bundesregierung und viele Initiativen, besonders schon seit Jahren im hospizlichen Bereich, arbeiten daran, Wege aus dieser Isolation zu schaffen. Doch am Ende sind es die Betroffenen selbst, die ihren Weg zur Heilung und zur Gemeinschaft finden müssen. Einsamkeit kann durch Verbundenheit gemildert werden, und manchmal sind es die Liebe und das Mitgefühl, die als Brücke zu einem neuen Lebensabschnitt dienen.
Dieses „nichts ist mehr wie zuvor“ bleibt bestehen, aber es kann sich mit der Zeit verwandeln und einen neuen Platz im Leben finden.
Autor: Hermann J. Bayer, Sozialpädagoge, Ritualgestaltung und Lebensbegleitung. Mitarbeit im Redaktionsteam von trauer/now. www.lebenscafe.de
Mit einem Artikel „Trauer über den Tod eines geliebten Menschen und Einsamkeit“ hat der Autor mitgeschrieben an dem Buch: Einsam. Gesellschaftliche, kirchliche und diakonische Perspektiven, herausgegeben von Astrid Gieb, Daniel Hörsch, Georg Hofmeister und Ulrich Lilie, 2022, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig.