Normalerweise trauern wir um Menschen, mit denen uns persönliche Geschichten verbinden: Erinnerungen, gemeinsame Erlebnisse, geteilte Lebenswege, im tragischen Fall ist es sogar der Lieblingsmensch, den wir sehr geliebt und/oder mit dem wir gemeinsame Kinder haben. Aber trauern um einen Menschen, dem man persönlich noch nie begegnet ist – ist das möglich?
Viele Menschen haben das Bedürfnis, Personen, deren Leben öffentlich stattfand, diskutiert oder immer wieder auch bewertet wurde, auch öffentlich zu betrauern. Der/die Gestorbene hat vielleicht durch eine politische Funktion, durch seine Musik oder ihre Bücher viele Menschen berührt, inspiriert oder durch das Leben begleitet, im Falle der englischen Königin über 70 Jahre hinweg. Die Trauer im Todesfall ist hier eine Art «Ehrbezeugung»:
«Ich habe einen Freund verloren», sagen dann die trauernden Fans von Michael Jackson, oder: «Sie war eine persönliche Inspiration für mein eigenes Leben», äussern die verschiedensten Politiker nach dem Tod von Queen Elizabeth, oder «Die ganze Fussballnation ist erschüttert und fühlt mit seiner Frau» nach dem Freitod des ehemaligen Nationaltorhüters Robert Enke am 10. Nov. 2009.
Staatsbegräbnisse:
Rituale unabhängig von realer Trauer
Sigbert Gebert weist in diesem Zusammenhang in seinem Artikel «Geheuchelte Trauer und folgenlose Solidarität» auf einen wichtigen Unterschied hin: «Während es sich bei den neuen Formen spontaner kollektiver Trauer um echte Trauerbekundungen zu handeln scheint, sind bei offiziellen Trauerfeiern oder Staatsbegräbnissen die Rituale unabhängig von realer Trauer.» Und er ergänzt: «Die säkulare Politik wird bei Trauerfeiern pseudo-religiös, vermittelt einen politischen Sinn – was meist zu peinlichem Pathos führt. Politische Trauer ist nicht eigentlich Trauer, sondern politische Demonstration.»
Unabhängig davon, ob in einem Staatsakt mit Blumenkränzen vor einem Denkmal mit todernsten Gesichtern getrauert wird oder ob Menschen zum Beispiel an einem Brückengeländer Blumen und Kerzen niederlegen: Wenn etwas extrem Schreckliches (wie das Schulmassaker von Erfurt am 26. April 2002) oder extrem Öffentliches (wie der Tod einer Monarchin) geschieht, berichten die Medien zeitgleich und ausführlich in zahlreichen Sondersendungen und Live-Übertragungen, weswegen der Begriff der Sensationsgesellschaft in Medienethik und Philosophie diskutiert wird. Christoph Türcke diagnostiziert in seinem Buch «Erregte Gesellschaft – Philosophie der Sensation» das Sein als «Wahrgenommenwerden» – frei nach Descartes: «Ich werde gesehen, also bin ich». Überleben in der Gunst der Aufmerksamkeit kann man wohl nur noch mit dem Aussergewöhnlichen oder Schrecklichen.
Die kollektive Trauer als Event-Erlebnis
Aber auch die Eventgesellschaft wird in diesem Zusammenhang wichtig. Events, so Gebert in seiner Diagnose, bilden «außeralltägliche Vergemeinschaftungsformen, sind die Feiern und Feste individualistischer, pluralistischer Gesellschaften. Im Event vergewissern sich Mitglieder von Szenen ihrer Gemeinschaft, die sich auf gemeinsame Interessen und ästhetische Vorlieben gründet. Events bestätigen nicht wie das traditionelle Fest eine vorgegebene Gemeinschaft, sondern bilden kurzzeitig eine Erlebnisgemeinschaft.» Und eben auch die kollektive Trauer, die sich wie allgemein Feiern und Feste zu individualisieren scheint, wird somit zum Event. Und bedient dabei auch den Wunsch vieler Menschen, dazu zu gehören, «dabei» zu sein, wenn etwas Wichtiges geschieht.
Als das German Wings Flugzeug am 23.3.2015 in den Alpen zerschellte und 150 Menschen mit in den Tod riss, gab es an vielen Orten Trauergottesdienste mit Fahnen auf Halbmast – und spontanes Zusammenkommen vieler Menschen mit Schweigeminuten an Bahnhöfen oder in belebten Parks. «Ein Ort des Zwecklosen, Fraglosen, Antwortlosen. Und gerade darin liegt sein Sinn», so schrieb die Süddeutsche Zeitung eine Woche nach dem Flugzeugabsturz. In solchen Ritualen, so der Befund, versichere sich das Gemeinwesen seiner Grundlagen, seiner Zusammengehörigkeit.
Wo ist die private Trauer spürbar, wo sind die Trauernden sichtbar?
Trauer wird heute nicht nur in der Kultur (Film, Medien, Literatur), sondern auch im öffentlichen Raum wie jetzt bei der Trauer um den Tod der Queen immer präsenter, obwohl Letztere eine «einseitige Bindung» zeigt: Elizabeth II. hat ja die meisten, der um sie Trauernden nicht persönlich gekannt. Dagegen verschiebt sich das Zeigen der individualisierten Trauer aufgrund eines einzigartigen, existenziellen Verlustes eines nahen Menschen immer mehr in den privaten, engsten Raum – wird fast unsichtbar.
Mehr als 10 % sind von einem akuten Trauerprozess betroffen!
Mehr als 900.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland. Wenn jede/r Verstorbene/r auch nur 8-12 Menschen im engsten Umfeld (familiär oder freundschaftlich) hatte und die Hinterbliebenen um sie oder ihn ein Jahr lang trauern, berührt das 10 Millionen Menschen unmittelbar. Deutlich mehr als 10 % der Gesamtbevölkerung sind also stets von einem akuten Trauerprozess betroffen! Obwohl Trauer keine «Krankheit» ist, die schnellstmöglich zu heilen wäre, sondern eine «normale», eigentlich psychohygienische gesunde Reaktion auf eine Verlusterfahrung, gilt sie doch gemeinhin als «Störfall» in einer Leistungsgesellschaft, in der alles auf Gelingen, Erfolg, Vitalität, Tempo, Belastbarkeit und «Funktionieren» programmiert erscheint. (Nur wenn die Queen stirbt, steht sogar der Fussball in der englischen Premier League still). Wird die Trauer deswegen in die privaten Hinterhöfe verbannt, damit sie auf den Hauptstrassen oder «Boulevards» der Öffentlichkeit nicht stören? Finden deswegen Abschiedsfeiern immer häufiger «im engsten Familienkreis» statt, so dass Anteilnahme kaum möglich ist oder erst im Nachhinein, wenn eine Todesanzeige darauf hinweist?
Wenn ca. vier Milliarden Menschen weltweit am 19. September 2022 die Trauerfeierlichkeiten für die Queen am 19. September 2022 an den TV-Bildschirmen verfolgt haben, mischt sich in diese grosse anonyme Trauergemeinschaft auch die Erfahrung von persönlichem Verlust und Schicksal. Wobei dieses kollektive Ereignis schon von daher tröstet, in einem «grösseren Ganzen» aufgehoben zu sein, wenn auch nur für wenige Stunden. Der Wunsch dazuzugehören, wird in einer säkularisierten, individualisierten und zunehmend Ritualen und (religiösen) Deutungsmustern entfremdeten Gesellschaft wohl immer wichtiger!
PS: am 24. November 1991 sass ich fassungslos und erschüttert vor der Tagesschau. Der Sprecher verkündete überraschend den Tod von Freddie Mercury. Als Queen-Fan betrauere ich es noch heute, dass ich Freddie nie auf der Bühne gesehen habe – und dass die Welt um einen exzentrischen und begnadeten Musiker ärmer geworden ist. Who wants to live forever sollte auch auf meiner Beerdigung einmal gespielt werden…
Wolfgang Weigand, dipl. Theologe, dipl. Erwachsenenbildner, Kabarettist und Autor