© Louise Brown
Auf dem Weg zum Tor beginnt für mich der eigentliche Friedhofsbesuch. Meine Tochter wurde im März beigesetzt und im Mai habe ich erfahren, dass ich nochmal schwanger war. Auf dem Weg wurde mein Sohn im Bauch immer ruhiger. Später auch im Kinderwagen. Hier hat er sich zurückgenommen, denn hier war Zeit für seine Schwester.
Dieser Ort bedeutet für mich Zeit und Raum für Erinnerung. Es ist der Ort, wo ich bewusster trauere. Wo ich die Trauer zulasse und genehmige, mir selbst gegenüber. Es ist nicht nur der Ort für Kaja, sondern auch für andere in der Familie, die gegangen sind. Für mich ist der Gedanke tröstlich, dass die alle wieder zusammen sind.
Zum Grab kommen wir an Kajas Geburtstag und an ihrem Todestag. Aber auch an Tagen, an denen ich ein Gefühl von Trost brauche, komme ich hierher. Wenn ich die Trauer rauslassen möchte. Hier ist der Platz, wo sie hinkann. Am Grab denke ich vor allem an unsere gemeinsame Zeit.
© Louise Brown
„Mein Leben mit Kaja war mein Alltag.“
Kaja wurde im September 2002 geboren. Ich war in der 30. Woche, als ich in Dänemark Wehen bekam. Auf diesem Urlaub ist Kajas Name entstanden, als wir verschiedene Namen in den Sand geschrieben haben. In der 32. Woche wurde sie per Kaiserschnitt geholt. Der Pfleger ging gleich mit ihr raus und kam nicht wieder. Kaja wurde in ein 35 Kilometer entferntes Krankenhaus verlegt. Die nächsten fünf Monate hieß es: hoffen, beten, zittern.
Sie hatte keine Eigenbewegung und keine Muskelbewegung. Die Reflexe funktionierten, aber sie konnte nicht selbstständig atmen. Die Ärzte haben immer wieder nach einem Grund für ihren Zustand gesucht. In ihren Unterlagen steht als Ursache „unbekanntes, medizinisches Syndrom“.
Mein Leben mit Kaja war mein Alltag. Ich habe die Fütterung über die Magensonde übernommen, wie auch die Versorgung mit Wickeln und Baden. Ich habe mich in die medizinische Versorgung eingearbeitet. Manchmal habe ich nur die Fensterdekoration gebastelt. Im Januar konnten wir das erste Mal mit ihr mit der mobilen Beatmungsmaschine spazieren gehen. Von da an haben wir es regelmäßig getan.
Ein Ritual war das Vorlesen eines Buches, das von einem Eisbären und einem Pinguin handelte. Sie hatte u.a. einen Eisbären als Kuscheltier, den wir ihr später in den Sarg gelegt haben. Bevor wir gegangen sind, haben wir ihr immer einen irischen Segensgruß vorgesungen. Wir haben ihr laut gesagt: „Wenn du gehen willst, geh, wenn du bleiben kannst, bleib bei uns, dann ist das schön.“
„Sie war unsere Schnecke.“
Wie war sie als Mensch? Sie war eine Kämpferin. Sie hatte ihren Dickschädel. Sie hat wenig geweint. Sie hatte viele Haare und dunkle Augen. Sie war unsere Schnecke. Sie brauchte mit allem länger. Sie war sehr präsent und hat alle verzaubert. Wenn ich sie angezogen habe, zeigte sie zwar wenig Reaktion, aber sie war da.
Es gibt zwei große Highlights, die uns das Krankenhauspersonal ermöglicht haben. Einmal hat es uns einen Weihnachtsbaum ins Krankenzimmer gestellt. Ein anderes Mal ist der leitende Arzt auf eigener Verantwortung mit uns in einem Rettungswagen nach St. Peter Ording gefahren. Es war ein großer Wunsch von mir, mit Kaja am Strand spazieren zu gehen. Dieser Spaziergang war ein großes Geschenk.
Kaja ist gestorben, weil wir die Maschinen haben abstellen lassen. Als klar war, dass sie keine Chance hatte. Dass es keine Heilung oder Chance auf Besserung geben würde. Aber auch, dass es keine Chance aufs Sterben geben würde, weil wir sie beatmen und ernähren. Die Ethikkommission des Klinikums hat sich ihren Fall angeschaut und hat einstimmig ihr Votum abgegeben, dass die Maschinen abgestellt werden durften.
Kaja hatte ein Einzelzimmer, und so konnte ich mehrmals bei ihr übernachten. Sie hat dann immer bei mir im Bett geschlafen. In ihrer letzten Nacht bin ich aufgewacht, weil irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Mir war klar: Kaja hat sich auf den Weg gemacht. Was war anders? Ihre Seele war nicht mehr da.
„Es war tröstlich, das Gemeinsame zu spüren.“
Mein Mann und unsere Gardinger Pastorin sind gekommen, die uns die ganze Zeit begleitet hat. Sie hat Kaja gesegnet und wir haben gebetet. Wo vorher die Maschinen fauchten, war es plötzlich ganz still. Man konnte auf einmal die Uhr ticken hören. Kaja hat einen tiefen Atemzug genommen. Dann ist sie gestorben.
Wir waren vorbereitet, aber nach Kajas Tod habe ich nur funktioniert. Für ihre Beerdigung habe ich ihr den roten Jogginganzug angezogen. Auch ich hatte ein rotes Oberteil an; rot war die Verbindungsfarbe zu ihr. Als ich vor der Kirche das Team vom Krankenhaus sah, alle in schwarz, wo ich sie bis dahin nur in weiß kannte, da habe ich nur geheult. Da wurde mir Kajas Tod tatsächlich bewusst.
Im Café nach der Trauerfeier hatte die Betreiberin die Tische mit Stofftieren, Eisbären und Pinguinen dekoriert, die die Gäste mitnehmen konnten. Als wir mit einigen Trauergästen zum Grab gingen, hatten einige von ihnen ein Stofftier in der Hand. Das war ein schönes Bild. Es war tröstlich für mich, das Gemeinsame zu spüren.
„Nicht „Warum“ – sondern „Wozu“.“
Wir haben uns viel mit dem Trauer- und Sterbeprozess beschäftigt. Natürlich habe ich mir anfangs die Warum-Frage gestellt. Noch heute geht mir die Frage durch den Kopf: Habe ich etwas falsch gemacht? Ein Physiotherapeut hat damals zu mir gesagt: Ihr müsst nicht fragen „warum?“, sondern „wozu?“ Dieser Gedanke hat uns sehr geholfen. Zuhause haben wir uns erstmal eine Liste gemacht, was wir durch Kaja alles gewonnen, und nicht nur verloren haben.
Was hat sich seit Kajas Tod geändert? Ich wäre nicht die, die ich heute bin, ohne diese Erfahrung. Ich bin verletzbarer, habe aber auf der anderen Seite größeres Verständnis von Trauer und Hilfestellung, ob in der Arbeit oder im Privaten. Es ist ein Ziel von mir heute, die Sprachlosigkeit in der Trauer aufzulösen. Ich lerne das, das auch für mich zu tun.
© Louise Brown
Bei Kajas Stein handelt es sich um einen Familienstein. Die kleine Höhle ist für mich, bzw. für „ihren“ Pinguin. Die Vogeltränke ist für meinen Mann: Da kommt das Leben zurück. Früher klebte am Grabstein einen kleinen Stein für unseren Sohn, unseren Krümel. Die Wolke steht für die anderen Menschen, die wir verloren haben. Schon auf der Intensivstation war Kaja unsere kleine Schnecke. Wenn wir heute zum Beispiel beim Joggen auf dem Weg eine Schnecke mit Häuschen sehen, dann fühle ich ihre Nähe.
Mein Sohn hat neulich erzählt, dass er oft zum Grab gefahren ist, ohne, dass ich das wusste. Erst, wenn wir alle drei so weit sind, werden wir das Grab auflösen.
Von Anfang an war der Gedanke für mich tröstlich, dass es unser Stein ist. Wir können ihn mit nach Hause nehmen. Ich freue mich auf den Tag, an dem wir unseren Familienstein mitnehmen und bei uns in den Garten stellen. Noch aber brauchen wir diesen Ort hier für uns.
Autorin: Louise Brown, Autorin / Diogenes-Verlag: Was bleibt, wenn wir sterben
Sie studierte Politikwissenschaft in Nordengland, Kiel und Berlin. Sie ist Journalistin und seit einigen Jahren auch als Trauerrednerin in Hamburg tätig. Dort moderierte sie auch das erste ›Death Café‹. In ihrem Podcast ›Meine perfekte Beerdigung‹ spricht sie mit Menschen darüber, wie sie einmal verabschiedet werden wollen.
Dabei wird das Phänomen Trost aus verschiedenen kulturellen, religiösen und künstlerischen Perspektiven betrachtet. Wie wir Verlusterlebnissen und den damit verbundenen Schmerzen begegnen können wird vielfältig erfahrbar.
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