Foto: Louise Brown
Direkt nach ihrem Tod war der Friedhof wichtig für mich. Irene ist im Mai 2021 gestorben und danach war ich jede Woche hier. Ich habe ehrenamtlich im Tierheim gearbeitet, habe mich vor der Arbeit bei Irene hingesetzt und habe bei ihr Mittag gemacht.
Es war wichtig für mich, einen Ort zu haben, an den ich hingehen kann, um die Verbindung zu ihr weiter bestehen zu lassen. Aber auch, um den Kreis zu schließen: Irene kam vom Tierheim zu uns, daher fühlte es sich richtig an, sie hier wieder zurückzubringen.
Wir haben Irene 2017 adoptiert, da war sie schon zehn und lebte seit ein einhalb Jahren im Tierheim. Niemand wollte sie mitnehmen. Sie hat viel geschrien, war Menschen gegenüber nicht aufgeschlossen und aufgrund einer Schilddrüsenüberfunktion gestresst. Im Seniorenkatzenhaus hatte sie ein Zimmer für sich. Sie war eine unabhängige, stolze Katze.
Wir hatten damals die Auswahl zwischen drei Katzen. Am Ende haben wir rational entschieden: Weil Irene schon so lange im Tierheim lebte, haben wir sie mitgenommen. Ihr Fell war struppig, sie war abgemagert, sie musste da raus. Am 20. Juni 2017 ist sie bei uns eingezogen.
Foto: Louise Brown
Foto: Louise Brown
Ich bin mit Katzen groß geworden, habe aber in der Pubertät eine Allergie entwickelt. An einer Katze konnte ich dennoch nicht vorbeigehen. 2016 hatte ich nach einer Therapie bei einer Heilpraktikerin keine Allergie mehr. Als wir uns entschieden, eine Katze zu uns zu nehmen, dachte ich: Endlich geht ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Irene aber war eine selbstbewusste, dominante Katze. Zuhause hat sie sich gleich auf die Spüle gelegt. Sie hat sich bei uns wohl gefühlt. Ich konnte aber erst keine Bindung zu ihr aufbauen.
Irene hat viel geschrien. Wir haben keine Nacht mehr durchgeschlafen: Alle zwei Stunden hat sie uns gerufen und gesucht, aber wenn wir bei ihr waren, dann hat sie sich beruhigt. Ich finde es interessant, wozu man bereit ist. Es war schon Liebe. Es gab keine andere Option für uns: Die Vorstellung, dass eine andere Familie es mit ihr nicht aushalten würde und sie zurück ins Tierheim bringen würde, war für uns undenkbar. Sie war ein verlorenes Wesen, das ein Zuhause brauchte.
Irene hat lange gebraucht, um Nähe zuzulassen. Irgendwann konnte ich ihr auf dem Sofa den Bauch kraulen. Fünf Minuten hat sie das genossen, dann ist sie wieder hochgeschreckt. Die Bürste war der Eisbrecher; sie fand es toll, gebürstet zu werden. Danach hat sie sich auf die Seite gelegt und hat uns den Bauch offenbart. Das war ein Vertrauensbeweis.
Was hat sie zuhause gerne gemacht? Sie hat viel geschlafen. Sie wollte ihre Ruhe haben. Es war aber wichtig für sie, dass jemand da war. Meistens hat sie auf dem Sofa und auf ihrem Katzenbaum geschlafen, wo wir waren. Sie hatte auch einen Schlafplatz unter unserem Bett. Um 21.45 signalisierte sie uns, dass es Zeit sei, um ins Bett zu gehen. Auch den Nachbarn, der vorbeigekommen war, hat sie um kurz vor 10 Uhr angeschrien, weil es Zeit war, um schlafen zu gehen.
Besuch war ihr egal. Wenn wir gefeiert haben, war sie mittendrin, hat auf ihrem Katzenbaum gethront und alle abgecheckt. Wenn sie fressen wollte, ging sie durch die Leute einfach hindurch. Einen Katzensitter hat sie ignoriert; mit einer anderen Sitterin ist sie auf den Balkon gegangen, wenn sie die Blumen gegossen hat. Irene zeigte bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Wesen.
Begleiten bis zum Schluss
Im Sommer 2020 hat sich angedeutet, dass ihr Leben zu Ende ging. Sie hat abgenommen und viel gebrochen. Weihnachten habe ich gespürt, dass wir uns bald von ihr verabschieden müssen. Anfang Mai sagte uns die Tierärztin, dass wir uns überlegen sollten, wann wir Irene gehen lassen wollten. Es war klar für uns, dass wie sie nicht einschläfern lassen, außer wenn sie Schmerzen hat, und wir sie bis zum Ende begleiten wollen.
Eine Kollegin aus der Tiersterbebegleitung hat uns erklärt, was uns erwartet. Wir haben Irene nicht gezwungen, ihre Tabletten zu nehmen oder ihr Futter zu essen. Es war anstrengend, aber bewegend zu sehen, wie ein Tier stirbt. Jeden Abend haben wir uns von ihr verabschiedet und ihr gesagt, dass sie gehen kann, auch wenn wir traurig sind. Als sie in der letzten Nacht unruhig war, habe ich sie um sechs Uhr morgens in unser Bett geholt. Um acht Uhr ist sie eingeschlafen. Es war so schön, sie in den Arm zu halten, meine Hand auf ihrem Kopf und ihre letzten Atemzüge zu spüren.
Irene war wunderschön, getigert mit einem weißen Mäulchen. Sie war eine vornehme, alte Katzendame mit einem weisen, wissenden Blick. Routine und Rituale waren ihr wichtig. Sie war selbstbewusst, aber auch zurückhaltend. Ich hätte ihr gewünscht, dass sie mehr Zeit gehabt hätte, weil sie gerade den Punkt erreicht hatte, an dem sie sich mehr geöffnet hat.
Irene hat ihr Leben selbstbestimmt geführt. So wollte sie auch gehen, davon gehe ich fest aus. Es war schön für uns, dass wir ihr das ermöglichen konnten. Das war ein Geschenk für sie. Viele kennen nur die Möglichkeit, ein Tier einschläfern zu lassen. Es gibt aber auch andere Wege. Wir waren auf ihr Sterben vorbereitet und wir hatten Unterstützung. Ich konnte aus der Erfahrung, Irenes Sterbeprozess zu begleiten, auch etwas Positives ziehen: dass das Sterben traurig, aber auch schön sein kann.
Auf Wiedersehen, Irene
Drei Tage lag sie bei uns aufgebahrt. Auf ihrer roten Decke lag sie neben uns auf dem Sofa. Am Grab lagen Blumen und in das Loch etwas Stroh, damit sie weich gebettet war. Irene wurde in ihrer Lieblingsdecke bestattet, die ich damals vom Tierheim mitgenommen hatte.
Warum war es für uns wichtig, Irene auf dem Friedhof zu begraben? Weil sie unser erstes gemeinsames Tier war; ein Wesen, um das wir uns beide gekümmert haben. Als sie die ersten Tage bei meinem Mann auf dem Schoß saß, muss ihr dieses Zutrauen viel Überwindung gekostet haben. Das hat uns tief berührt. Sie hat einen großen Raum bei uns eingenommen. Sie ist in Gesprächen noch präsent. Zuhause habe ich ein Bild von ihr: Ich spreche mit ihr und erzähle ihr von unserem neuen Kater. Sie war ein Familienmitglied.
Durch ihr Grab ist sie nicht verschwunden und noch körperlich greifbar. Es ist ein physischer Ort, wo ich etwas für sie gestalten kann. Ich weiß, wo sie ist. Wenn ich heute herkomme, fühle ich nochmal mehr Nähe und das Gefühl, mich gekümmert zu haben.
Heute ist es mir nicht mehr ganz so wichtig, hierher zu kommen. Ihre körperliche Hülle ist zwar hier, aber eigentlich ist sie in mir. Der Friedhof aber ist der Abschluss unseres gemeinsamen Weges. Hier haben wir sie wieder zurückgebracht, wo wir sie hergeholt haben.
Autorin: Louise Brown, Autorin / Diogenes-Verlag: Was bleibt, wenn wir sterben
Sie studierte Politikwissenschaft in Nordengland, Kiel und Berlin. Sie ist Journalistin und seit einigen Jahren auch als Trauerrednerin in Hamburg tätig. Dort moderierte sie auch das erste ›Death Café‹. In ihrem Podcast ›Meine perfekte Beerdigung‹ spricht sie mit Menschen darüber, wie sie einmal verabschiedet werden wollen.