Die alljährlich wiederkehrende große zwischenmenschliche Katastrophe
// lexikarte.de/Frank Daniels
Weil wir Weihnachten nie so gefeiert haben, wie meine Mutter es gewollt hätte: schlicht, unprätentiös, dafür mit gemeinsamem Singen, Texte lesen und Christmette besuchen. Meine Kindheitserinnerungen an dieses Fest sind in Summe: Stress, Hektik, Angst! Angst, dass die Eltern sich streiten, dass Papa zu viel trinkt, obwohl er nichts verträgt, Oma weint und Opa türenschlagend im Gästezimmer verschwindet. Ja, wir hatten ein Gästezimmer!
Warum glauben eigentlich immer alle, dass nur „Prolls“ sich an Weihnachten volllaufen lassen?
„Corona-konform“ wird es 2020 Weihnachtsausnahmeregelungen geben, die alles etwas „erleichtern“ sollen. Vielleicht wird vielen dadurch die gemeinsame Zeit für gut gelingende zwischenmenschliche Begegnungen bewusster – weil „kostbarer“.
Menschen in Trauer, besonders wenn es das erste Fest ohne den Verstorbenen ist, schmerzt diese Lücke am heftigsten in dieser dunklen Jahreszeit – vor allem in der Adventszeit und an Weihnachten.
Mein erster Vorschlag, Hilfe in erschwerten Zeiten wie Weihnachten zu finden:
Auf der Suche nach Hilfe:
„Trauerwege – Trost durch Philosophie“
Die Gruppe bestand aus Frau Engel und mir. Nach der Zahl der Anmeldungen wären es mehr Teilnehmer*innen gewesen. Da ich die Erste war, trat eine Art „Corona-Luxus“ in Kraft: nur zwei Personen aus zwei Haushalten, draußen, auf Abstand, dafür ohne Maske.
„Trauerwege – Trost durch Philosophie“ heißt das Angebot für einen philosophischen Spaziergang mit neuen Aussichten. Frau Engel ist Mitte fünfzig und sieht auf eine überstrahlende Art zeitlos aus. Das liegt auch an meinen Augen; ich bin Grauer-Star-operiert und Sonne blendet mich. An diesem End-November-Tag war es strahlend hell und viel zu warm für die Jahreszeit, was mich hoffen ließ, dass der Winter heuer vielleicht ausfällt, wir übergangslos in Frühlings-Aufbruchs-Licht gehen dürfen – und eine „engelische“ Philosophin mich dabei begleitet.
Natürlich erwartete ich nicht die Tools, also die Mittel, um mühelos eine andere Ebene zu erreichen, mich in eine andere Perspektive zu katapultieren, mit dem alles erklärenden Überblick. Denn ich bin ja nicht blöööd … – obwohl es zunehmend Momente gibt, wo mir eine „glückliche Umnachtung“ sehr entgegenkäme.
Philosophieren macht Stülpungen im Kopf, ist Fragen ohne Antworten. Alle Fragen sind erlaubt, das In-Frage-Stellen ist erwünscht. Philosophie ist auch Umgang mit der Kunst zu sterben, dem lebenslangen Sterben-Lernen und dem Trauern-Lernen.
„Mit dem Geborenwerden beginnt schon unser Sterben, denn Entstehen heißt Vergehen.
(…) Warum, wenn du dein Lebensmahl genossen hast, willst du nicht scheiden wie ein satt-vergnügter Gast?
Wenn immer euer Leben endet, ist es vollendet (…)
Geht deshalb achtsam mit ihm um, solange ihr da seid.“
// Michel de Montaigne, Philosophieren heißt Sterben lernen
Die erste Lektion habe ich so verstanden: Ich muss es wollen, erarbeiten, ausreifen lassen, um die Fähigkeit dazu zu erlangen. Und ich will es anschauen und den Prozess, die Herausforderung annehmen, die Heldenreise antreten, egal wie lange es dauert und das Ende aussehen mag. Wer sich für diese Art von Herangehensweise an Trauer der anderen Art interessiert, kann sich an Frau Engel wenden: (Seelsorgerin, Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft etc. www.philosophie-engel.de) oder im Internet nach Angeboten suchen; z. B. vermitteln die diversen Palliativ-Netzwerke diese Angebote.
Mein zweiter Vorschlag für diese erinnerungsreiche wie auch erinnerungsschwere Zeit ist der an der eigenen Seele erfahrene Satz:
„Du darfst DICH zumuten!“
„Trauern im Dezember
– Die Welt feiert –
meine Welt steht still!“
// lexikarte.de/Frank Daniels
Weihnachten ruft mindestens so viele positive wie negative Gefühle hervor. Das hat seine Gründe vor allem in seinem verpflichtenden Charakter, der Tatsache, dass Meinungsverschiedenheiten tabu sind, und in der Erwartungshaltung, dass Familienbesuche stattzufinden haben. Feiertage sind eben Markierungen in der Zeit.
Durch den speziellen Charakter des Festes entstehen Traditionen und/oder besondere Erinnerungen, die mit diesem Fest lebenslang verbunden sind. Meistens sind es Tage, die besonders nostalgische Gefühle durch die Erinnerung an sehr konkrete Ereignisse wachrufen können. Hier wird der Verlust besonders spürbar!
Trauernde stehen vor der Herausforderung, den Feiertagen neue Inhalte zu geben. Falls Sie es überhaupt wollen, ist es nicht leicht umzusetzen. Man möchte der Vergangenheit gerecht werden und auch die neue Zeit, die Zukunft im Blick haben.
(Quelle: Maja Stomp, „Wir Witwen sind ein zähes Volk“)
„Du darfst dich zumuten!“ – Diese Überschrift ist mein Appell zur Selbstfürsorge. Der Satz ist ein Mutmacher, genau das zu tun, was sich jetzt gut und richtig für Ihren Trauerprozess anfühlt. Sie müssen nichts erklären – Sie dürfen sich Ihrer Familie zumuten! Und wer Angst vor Diskussionen hat – schreibt eine Mail oder SMS/Whatsapp.
- Wenn Sie keine Weihnachtskarten verschicken wollen, tun Sie es nicht!
- Wenn Sie keinen Weihnachtsbaum haben wollen, lassen Sie ihn weg! Wenn doch und Sie Ihre ganze Wohnung schmücken wollen, tun Sie es einfach!
- Wenn Sie andere Menschen besuchen, kündigen Sie im Vorfeld an, dass es sein kann, dass Sie sich früher verabschieden!
- Wenn Sie Leute einladen, bitten Sie, ob sie beim Kochen helfen oder etwas mitbringen können!
- Schaffen Sie sich zeitliche Freiräume für sich selbst: zum Meditieren, Schreiben, Spazierengehen, damit Sie sich erholen können!
- Überspringen Sie den Feiertag! Das ist erlaubt. Es ist Ihr gutes Recht, sich so zu entscheiden, wenn Ihnen das angenehm ist.
- Hören Sie auf sich selbst und nicht auf die Meinung anderer!
- Fühlen Sie sich nicht schuldig wegen Ihrer Entscheidung!
„Nichts kann Sie umwerfen!“
Achtsamkeitsübung als Sofort-Hilfe:
„Mit folgender Achtsamkeitsübung können Sie eine Panikattacke lindern:
Suchen Sie einen ruhigen Ort in Wohnung, Haus oder Büro, an dem Sie nicht gestört werden. Ideal wäre ein Blick in den Garten oder auf einen Baum.
Bevor Sie starten, lockern Sie ggf. enge Kleidung, Gürtel oder Schuhe. Nehmen Sie die Außenwelt, in der Sie gerade sind, wahr.
Zählen Sie langsam im Geiste fünf Dinge auf, die sie gerade sehen können. Danach konzentrieren Sie sich auf fünf Dinge, die sie hören können (z. B. Geräusche oder Stimmen). Wenn möglich, fixieren Sie mit Ihren Augen einen festen Punkt. Nehmen sie nun wahr, wie Ihre Füße vom Boden getragen werden. Wie Ihre Beine fest auf Ihren Füßen stehen. Wie Ihr ganzer Körper von Boden, Füßen und Beinen getragen wird. Spüren Sie Ihrem Gewicht auf dem Boden nach, und verdeutlichen Sie sich vor Ihrem geistigen Auge, dass nichts Sie umwerfen kann.“
(Quelle: Karsten Dusse, „Achtsam morden“)
Ich wünsche Ihnen viel Ruhe,
freudige Erkenntnisse bei den „Inneren Erkundungen“ und geruhsame Feiertage.
*** Übrigens Frau Engel führte mich am Ende unseres Trost-Trauer-Weges an einen sehr hochgelegenen Ort unserer Stadt, an dem ich, obwohl er nah bei meiner Wohnung ist, noch nie war. Seltsam schön – auf lieb Vertrautes – aus einem völlig neuen Blickwinkel zu schauen.
Gisela Zimmermann/Filmemacherin und Trauerbegleiterin