© Louise Brown
Anfangs habe ich das Grab zu den Jahreszeitenwechsel immer neu bepflanzt. Damals brauchte ich dort etwas zu tun. Jetzt habe ich mit der Bepflanzung einen guten Kompromiss gefunden. Es darf lebendig-wild aussehen, das ist für mich in Ordnung und passt auch besser. Es ist schließlich unser Grab.
Dieser Friedhof ist ein Stadtteil-Friedhof, eine grüne Oase. Am Wochenende waren mein Mann und ich hier oft spazieren und haben die Natur genießen können. Als ich nach seinem Tod eine Grabstelle suchte, sagte unser 7-jähriger Sohn: „Hier kann ich bei meinem Papa Kastanien sammeln.“ Damit habe ich mich für diesen Friedhof entschieden. Das Grab von Tomas liegt direkt neben einer großen Kastanie. In den letzten Jahren haben wir hier wirklich viele Kastanien gesammelt.
Tomas hatte nach einer verschleppten Grippe eine Herzmuskelentzündung. An einem Sonntagabend ist er zuhause plötzlich gestorben.
Persönliche Grüße am Grab
Unser Sohn hat für seinen Papa eine Kerze gestaltet und hat sie nach der Trauerfeier zum Grab getragen. Auf der Kerze waren Symbole wie ein Pinsel, ein Regenbogen, eine Geige, Noten, eine Sonne und Tränen zu sehen. Anfangs habe ich täglich geschaut, dass es hier schön aussieht. Die Grabpflege war ein Stück Alltagsgestaltung und eine Art Ritual.

© Louise Brown
Jede Woche habe ich frische Blumen ans Grab gestellt und neue Kerzen angezündet. Kerzen haben für uns eine große Bedeutung, auch zuhause leuchtet oft eine. Somit war klar, dass auch auf das Grab eine Kerze gehört.
Als Tomas starb, war ich schwanger mit unserem jüngsten Sohn. In dieser Zeit dachte ich: „Jetzt muss ich das alles hier allein machen.“ Nach der Geburt waren wir dann wieder zu dritt, obwohl wir eigentlich zu viert sein wollten.
Zum Grab sind wir oft mit dem Kinderwagen gegangen. Wir haben es jahreszeitlich geschmückt: zu Weihnachten mit gefalteten Weihnachtssternen, zu Ostern mit einem Bügelperlen-Osterei, Silvester gab es eine Wunderkerze. Es war ein Ort des Schmerzes und des Trostes. Geweint habe ich hier aber nicht so oft. Die Erinnerungen und Verbindungen gab es vor allem auch bei uns zuhause, in unzähligen Bildern – und an den Orten, an denen wir gern zusammen waren.
Tomas hat Geige gespielt. Er hat gelesen, gemalt, gezeichnet und fotografiert. Geboren wurde er in einer Kleinstadt in der Nähe von Dresden. Als Kind wuchs er katholisch auf, was in der DDR schon besonders und herausfordernd war. Die Wende 1989 war für ihn ein wunderbares Ereignis. Nach seinem Theologiestudium arbeitete er viele Jahre für die Kirche. Im Grunde seines Herzens war er aber Künstler und wollte sich nicht in bestimmte Strukturen pressen lassen. So gab er seinen Beruf in der Kirche dann auf.
Tomas war kommunikativ, sensibel, fröhlich und hatte immer ein offenes Ohr für seine Mitmenschen. Er hatte einen Laden für Künstlerbedarf, in dem er auch Mal- und Kreativkurse gab. In seinem letzten Lebensjahr hatte er mehrere umfangreichere künstlerische Aufträge und durfte ein Kinderbuch illustrieren.
Die richtige Zeit für ein neues Grabmal
Es hat fast acht Jahre gebraucht, um den Grabstein aufzustellen. Wir hatten seit der Beerdigung ein schlichtes Holzkreuz, das war lange schön so. Als es kaputt war, dachte ich, wenn es jetzt keinen Grabstein gibt, dann nie. Es war mir wichtig, dass der Stein künstlerisch gestaltet wird. Er sollte ein Kunstwerk, aber dennoch schlicht sein. Ich habe viele Entwürfe gemacht und wieder verworfen. Schließlich entschied ich mich für das Taizé-Zeichen, das die beiden christlichen Symbole Kreuz und Taube verbindet.

© Louise Brown
Die Taube ist nach oben hin offen, mit einem Durchbruch in den Himmel. Der Grabstein ist aus sächsischem Sandstein. Er darf ruhig grün und moosig werden. Tomas hätte keinen glatten und polierten Stein gemocht, da bin ich mir sicher. Der Name auf dem Grabstein ist Tomas‘ Unterschrift in seiner Handschrift. Er hat so seine Bilder signiert. Daraus haben wir einen Scan erstellt, den der Bildhauer als Vorlage nutzen konnte. Der Bildhauer hat wunderbar verstanden, was ich wollte, und hat es künstlerisch umgesetzt.
Ein lebendig-wilder Erinnerungsort
Heute wächst hier Steppensalbei, Lavendel und Thymian. Und eine Walderdbeere. Das Grab ist insektenfreundlich und kann auch Zeiten ohne Gießen überstehen. Inzwischen ist es ein Erinnerungsort geworden, den ich eher punktuell besuche. Die Trauer nimmt nicht mehr so viel Raum ein wie einst. Sie tut nicht mehr so weh, aber sie bleibt ein Teil von uns und ist immer mal wieder präsent. So auch, als mein Großer eines Tages sagte: „Jetzt bin ich schon länger auf der Welt ohne Papa als mit ihm“. Oder als mein Jüngster, der Tomas nur aus Erzählungen, Bildern und Erinnerungen von anderen kennt, aus tiefster Seele sagte: „Ich hätte den Papa schon gern richtig kennengelernt.“

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Was mir nach Tomas‘ Tod geholfen hat? Kleine Schritte. Mut in der Verzweiflung, Freunde und Familie, mein Garten, das Zulassen der Trauer, viele Erinnerungen. Manchmal half nichts; da ging nur aushalten. Sicher halfen auch meine Kinder. Ich weiß nicht, ob ich so viel Kraft hätte aufbringen können (obwohl ich gefühlt keine hatte), wenn ich die Verantwortung als Mama nicht gehabt hätte.
Der Friedhof als lebendiger Ort
Ich bin nicht tiefgläubig, aber ich fühle mich schon von etwas Großem getragen. Die Erfahrung des Verlusts hat mir gezeigt, was im Leben wichtig ist, und dass man dem nachgehen sollte. Das Leben ist schön, das kann ich trotz allem sagen. Auch wenn ich es nicht verstehe, glaube ich, dass alles einen tieferen Sinn hat. Ich habe mich in den letzten Jahren verändert, persönlich und beruflich. Aktuell entwickeln wir mit einer Kollegin kreative Projekte, die wir auf Friedhöfen umsetzen wollen. Denn ein Friedhof ist für mich ein lebendiger und besonderer Ort. Die Trauer wird Teil meines Lebens bleiben.
Autorin: Louise Brown, geboren 1975 in London, ist Journalistin und auch als Trauerrednerin in Hamburg tätig. Dort moderierte sie das erste ›Death Café‹. In ihrem Podcast ›Meine perfekte Beerdigung‹ spricht sie mit Menschen darüber, wie sie einmal verabschiedet werden wollen. 2021 erschien im Diogenes Verlag ihr Buch ›Was bleibt, wenn wir sterben‹, 2023 ihr Trauerjournal ›Was bleibt, wenn wir schreiben‹.