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Der Leichenschmaus als Trittstein für den Trauerweg

Manchmal geht es hoch her, es wird gelacht und getrunken. Manchmal ist die Stimmung sehr gedrückt. Doch eines ist beim Leichenschmaus nach der Beerdigung immer gleich. Die Trauernden merken: sie sind nicht allein und in der Gemeinschaft wendet man sich dem Leben zu. Unser Autor Hermann Bayer schreibt mit viel Expertise und aus seinem eigenen Erleben heraus darüber, welche Rolle der Leichenschmaus als soziales Ritual für An- und Zugehörige nach der Beisetzung auch heute noch haben kann.

Der Leichenschmaus als Trittstein für den Trauerweg

© Annie Sprat / Unsplash

Selbst, wenn „Leichenschmaus“ nur ein Wort unter vielen anderen Beschreibungen ist, schlage ich vor, wir verständigen uns darauf, weil mir dieser Begriff von Kindheit an vertraut war beim Tod meiner Großeltern oder Nachbarn:

Ein Leichenschmaus als ein Zusammensein der Trauergäste im Anschluss an eine Beerdigung, das von der Familie des Verstorbenen ausgerichtet wird.

Ursprung und Bedeutung

Diese weltweit vorkommende Sitte war bereits in vorgeschichtlicher Zeit bekannt und ist die im interkulturellen Vergleich am weitesten verbreitete Tradition und Brauchtum bei Begräbnissen. Der Leichenschmaus signalisiert den Hinterbliebenen, dass das Leben weitergeht und der Tod zum Leben gehört.

Das gemeinsame Essen soll im Gedenken an den Toten stattfinden und einen zwanglosen Rahmen bieten, in dem Geschichten rund um ihn oder sie erzählt werden können – in Ergänzung zur Bestattung. Das Erzählen von Geschichten und Anekdoten dient zur Verlebendigung von Erinnerungen an den Verstorbenen. Wie von selbst erstehen traurige und fröhliche Momente gleichermaßen, so wie das Leben in Wirklichkeit ist.

Die An- und Zugehörigen werden auf dem ersten Schritt weg vom Grab nicht allein gelassen, sondern bleiben weiter bzw. wieder neu Teil ihrer sozialen Gemeinschaft. Sie betreten auf dem ersten Schritt weg vom Grab ein erstes Mal den Raum neuer Zugehörigkeit in der Familie und dem Freundeskreis ohne den zuvor verabschiedeten Verstorbenen. Das Essen kann zugleich auch eine Einladung sein, um gestärkt den Weg nach Hause – und eben oft auch in ein anderes Dorf oder andere Stadt – antreten zu können.

Diese uralte Tradition trägt in sich eine tiefe Bedeutung, die durchaus als „magisch“ bezeichnet werden kann. Ritual, Tradition und Brauchtum berühren tiefere Ebene des Menschseins und leben von der Wiederholbarkeit der stets gleichen Abläufe und dem Miteinander in Gemeinschaft.

Mit dem Tod scheint alles stillzustehen und nichts ist mehr, wie es war. Dann schöpfen wir Menschen wie aus einem uralten Wissen, um den Übergang vom gemeinsamen Leben in den Tod und aus dem Tod ins neue Leben hinein zu vollziehen.

Dieses „neue Leben“ beginnt in Gemeinschaft. Die Hinterbliebenen erfahren so, dass sie darin aufgehoben sein werden. Deshalb gehört der Leichenschmaus mit in den rituellen Vollzug der Beerdigung

Abschied – Übergang – Neuanfang

Zunächst ein kurzer theoretischer Exkurs, der mich in der Praxis leitet. Die „rites de passage“ nach dem französischen Anthropologen Arnold van Gennep (1909) beschreiben die Dreiheit eines Rituals: Abschied – Übergang – Neuanfang.

Zum Beispiel der rituelle Abschied beim Tod eines Menschen, der Beerdigung. Er beschreibt darin im Abschied den Übergang, sowohl des verstorbenen Menschen aus der sozialen Gemeinschaft als auch den des Hinterbliebenen in einen neuen Lebensschritt, in dem „Eine*r fehlt“ (Sepulkral Museum Kassel: Leichenschmaus Gestern und Heute)

Solche Veränderungen bringen, wie auch die Emotionsforscherin und Psychotherapeutin Verena Kast sagt, Unsicherheiten und Ungewissheiten mit sich. Daher werden sie von Ritualen begleitet, die Sicherheit in diesem unsicheren Lebensabschnitt bringen können.

In der rituellen Loslösung von der alten Rolle werden Personen auf die neuen Strukturen vorbereitet und sie erfahren dabei, wie die soziale Ordnung sich erneuert bzw. erhalten bleibt. Verena Kast beschreibt anschaulich, dass solche Rituale symbolische, szenisch-gestische Handlungen sind, klar strukturiert und daher wiederholbar. Sie werden von Menschen aus freien Stücken und bewusst vollzogen und treten als sozial geregelte Akte an die Stelle von Sprachlosigkeit, Handlungslosigkeit und blinden Ausbrüchen.

Als Gestalter von Abschiedsritualen erlebe ich, wie das Ritual die nicht vorstellbare Situation einer Beerdigung selbst bei guter Vorbereitung in der Tiefe halten kann. Oft frage ich mich, wie Menschen aushalten, was nicht aushaltbar scheint. Der Dreischritt im rituellen Vollzug einer Beerdigung führt mich darin immer wieder in neues Vertrauen.

Jede Bestattung zeigt sich als Dreischritt in „Abschied – Übergang – Angliederung“, umrahmt von Symbolen, wie Musik und Blumen und dem Licht der Kerzen, den Farben von Luftballons oder ähnlichen Details. Diese Schritte spiegeln den Verlauf einer Trauerfeier (Abschied und Würdigung), des Übergangs (Weg zum Grab und Bestattung) und die Angliederung im Neuanfang (Leichenschmaus) wider. Dies geschieht im Vertrauen auf den Menschen, der das Ritual (beg)leitet, sei es ein Vertreter*in aus dem religiösen Kontext, als Trauerredner*in oder ein vertrauter Mensch aus den Kreisen der Familie oder Freunde.

Das erste Mal in meinem Leben machte ich diese Erfahrung, als vor 39 Jahren mein Vater gestorben ist

Der Ablauf der Beerdigung war klar: Requiem in der Kirche, Gang auf den Friedhof und Aussegnung, Weg zum Grab und Beisetzung. Klar war auch, dass die Trauergäste eingeladen waren zum „Leichenschmaus“, so die Bezeichnung bei uns im Schwäbischen.

Das Essen war, wie regional üblich, vorbereitet mit Bratwürsten und Kartoffelsalat. Da jedoch viel mehr Gäste kamen, als voraussehbar war, gingen die Würste aus und es gab zusätzlich Schnitzel. Es schien, dass diejenigen, die keine Bratwurst mehr bekamen, sehr enttäuscht, geradezu beleidigt waren. Es war für sie „keine richtige Leich‘“ in dem was wir verinnerlicht haben an „magischer Kraft“, um gut wieder nach Hause und in das eigenes Leben zurückkehren zu können.

© Dan deAlmeida / Unsplash

Was also im Abschied und Übergang in der Feier vollzogen wird, zeigt sich im „Totenmahl“ seit Menschengedenken als erster Schritt zum Neuanfang. Und dazu braucht es auch das regional traditionelle Essen und sicher auch für manche einen Schluck Alkohol um zu wagen, was als „neuer Weg“ noch nicht vorstellbar ist.

Was Kinder und vor allem Jugendliche oft ablehnen, ist dieser gefühlte Widerspruch. „Zuerst weinen alle und dann lachen sie und sind fröhlich“. Das passt wohl nicht zusammen. Und findet gerade in der moralischen Vorstellung junger Menschen seine Grenzen. Entweder – oder. Beides zusammen, geht das?

Beides vollzieht sich in einem, die Freude und die Trauer. Die Dankbarkeit und der Verlust. Ein Trittstein kann dann zum Halt werden, wenn der Abschied in der Gemeinschaft als Erinnerung und Ermutigung zum ersten Schritt in einem neuen Leben angeregt und einen Menschen immer wieder in der Erinnerung daran trägt.

Bei der Beerdigung unserer Mutter wenige Tage im ersten Lockdown im März 2020 fiel der Leichenschmaus aus. Selbst für uns als Familie war die Verunsicherung damals groß, wenigsten noch eine Tasse Kaffee wollten wir miteinander trinken. Fast unentdeckt im Haus, damit es keiner sieht!

Diese Situation ist während der Pandemie für viele Hinterbliebene zur Realität geworden und ihnen fehlt, wie mir, bis heute die Gemeinschaft mit den Menschen, die meine Mutter geliebt und mit ihr gelebt haben. Nachholen geht nicht, längst sind wir weitere Schritt gegangen und das wissen viele andere in derselben Erfahrung.

Ein Trittstein, der fehlt!

© Lisa Baker / Unsplash

In der Zeit der Pandemie wurden wir geradezu aufgefordert, Traditionen und Brauchtum von ihrer ursprünglichen Bedeutung her wieder zu verstehen und im Wandel dieser Zeit eine neue Sinnwelt zu erschließen

Wir haben viel Kreatives gewagt und umgesetzt „aus der Not“, andere Ausdrucksformen zu entwickeln. Unsere Ideen während der Pandemie suchten nach einer Weise, die Verbundenheit spüren ließ – zu sich selbst und allen denen, die mittrauern.

Man suchte zum Beispiel nach etwas, was alle mit dem Verstorbenen verbunden hat, was er gerne gegessen hat, welche Musik die Person liebte oder welche Wege er gegangen ist. Möglichst nahe wollte man sein an dem, was er geliebt hat, was ihm entsprochen hat, worin Nähe wie selbstverständlich spürbar ist und man sich traut zu leben. Denen, die nicht bei der Beerdigung dabei sein durften, wurde zum Beispiel ein Rezept verschickt, das zu kochen in besonderer Weise erinnern kann. Oder Musik, ein Lieblingsstück, welches beim Hören die Verbindung zum Verstorbenen herstellen konnte.

Der Rahmen eines nicht stattfindenden Leichenschmauses öffnete sich in Möglichkeiten, die für eine längere Zeit hinweg vergegenwärtigen können, was bleibt und was alle miteinander verbinden kann. Trittsteine wie von selbst auf dem unbekannten Weg der Trauer, hineingestellt mitten in den Alltag und dem, wonach das Herz sich sehnt.

Ich erlebe, dass trauernde Menschen in Verbindung zum Freundeskreis spüren, dass das vollzogene Beerdigungsritual „nicht ausreicht“. Sie suchen nach Erneuerung auf dem bereits gegangenen Weg. Eine Frau hat zum Beispiel 40 Tage nach dem Tod ihres Mannes noch einmal eingeladen, um einander in der Runde erzählen zu können, wie sie an den Verstorbenen denken und was sie bewegt. Es gab Brot und Wein und wurde musikalisch begleitet. Ein besonderer Moment des Innehaltens, der durchaus auch weiterhin eine eigene Gestalt finden darf, zum Beispiel am Geburtstag, an einem der Totengedenktage im November oder zum Jahrtag. Dabei findet der im Dreischritt vollzogene „Neuanfang“ Tiefe und Wandlung.

Wie von selbst gehen meine Gedanken auf den Friedhof

Besonders in den zurückliegenden drei Jahren fanden wir in unserer Familie einen neuen Zugang zu dem Ort unserer Eltern und Großeltern. Wo anders sollten wir uns treffen als im Freien und der Nähe zueinander.

„In der Not“ haben wir uns wohlgefühlt, die Kinder am Grab gespielt und manches in der Natur drumherum entdeckt. Vielleicht werden wir das beibehalten und unsere nächste Einladung kann die sein, dass wir im Sommer einen Eiswagen bitten, ans Grab zu kommen, oder jemand, der auf seinem Fahrrad Kaffee und oder Sekt anbietet. Die Urenkel, Kinder und erwachsenen Kinder werden sich darauf freuen.

 

Ein persönlicher Gedanke zum Schluss

Das „letzte Fest“, der Leichenschmaus, kann ja heute schon vorbereitet werden – und die Planung ist jederzeit veränderbar, solange wir leben. Sich vorzustellen, wie das Fest sein wird, bei dem ich selbst nicht mehr leibhaftig dabei sein werde, schenkt mir heute schon Freude. Auch deshalb, weil ich, solange ich lebe, üben und die Menschen einladen kann, die mir wichtig sind. So dass sie dann – so sie mich überleben – feiern werden.

Dass wir darin Dankbarkeit finden, solange wir leben, wünsche ich mir. Dankbarkeit, Verbundenheit und Zugehörigkeit.

Schön ist das Leben jetzt. Und in diesem Sinne auch der Leichenschmaus (oder wie auch immer benannt) im Ritual der Bestattung.

 

Zum Autor: Hermann J.  Bayer, Sozialpädagoge, Ritualgestaltung und Lebensbegleitung. Mitarbeit im Redaktionsteam von trauer/now. www.lebenscafe.de

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