© Rosa_Fux
Die meisten Menschen können zu ihrem Namen interessante Geschichten erzählen. Schon die Frage, ob man den eigenen Namen mag und wer ihn ausgesucht hat, gibt einen kleinen Einblick in die Biographie. Ich selbst mag meinen Namen. Angelika – damit lasse ich mich gerne rufen. Meinen zweiten Namen, der Name meiner Großmutter, Sofie, konnte ich als Kind nicht leiden. Jetzt mag ich ihn, weil ich seine Bedeutung kenne und weil er schön klingt. Vielleicht werde ich ihn irgendwann als Zweitnamen tragen. Angelika-Sofie hört sich auch gut an. Aber diesen neuen Namen öffentlich zu machen, wäre ein großer Schritt. So leicht ändern wir unseren Namen nicht, denn er steht für Identität, für Anerkennung, für Respekt – für eine ganze Lebensgeschichte.
Namenlos
Das im Leben so wichtige Identitätsmerkmal bekommt mit dem Tod einen anderen Stellenwert. Bei Todesanzeigen erfährt man möglicherweise das gesamte Namens-Repertoire: Vorname, Nachname, Rufname, Kosename, Geburtsname. Es ist der Name, mit dem man den Tod eines Menschen bekannt gibt und Erinnerungen weckt.
Von den vielen, deren Name in keiner Todesanzeige steht, erfahren wir nichts. Und immer mehr Menschen finden wir auch auf keinem Friedhof, weil sie anonym bestattet wurden – sei es auf eigenen Wunsch, auf Wunsch der Angehörigen oder behördlich angeordnet.
Mit einer anonymen Bestattung – „ohne Namen“ – wird das im Leben so wichtige Erkennungszeichen plötzlich bedeutungslos. Der Platz, an dem die sterblichen Überreste eines anonym Bestatteten liegen, ist nicht ausgewiesen. Damit beginnt das Vergessen. Wer sich für eine anonyme Bestattung entscheidet, sollte sich dies bewusst machen. In einer Gesellschaft, in der Individualität und Respekt vor dem Individuum zentrale Werte sind, ist diese Entscheidung aussagestark und folgenreich.
Für sich selbst eine anonyme Bestattung festzulegen, sollte mit einem Menschen des Vertrauens besprochen werden. Ideal wäre es, diese Entscheidung mit Angehörigen oder Freunden zu treffen. Sie müssen später damit weiterleben denn:
Den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben.
// Mascha Kaléko
Anonyme Bestattung
Es gibt verständliche Gründe für eine anonyme Bestattung, die es zu respektieren gilt: Sei es, dass jemand nach seinem Tod nicht mehr zur Last fallen möchte bzw. die Beziehung zu den „Nächsten“ abgebrochen ist. Oder dass es niemanden mehr gibt, für den ein Grab wichtig wäre; oder die Bestattung möglichst kostengünstig organisiert werden soll.
Häufig vermischen sich diese nachvollziehbaren Gründe mit ungeklärten und unreflektierten Aspekten. Sei es die depressive Vermutung oder die traurige Erfahrung, für keinen wichtig zu sein. Oder der heimliche Wunsch, die zu wenig präsenten Kinder damit vor den Kopf zu stoßen. Oder die Enttäuschung über eine Kirche, deren Vertreter sich als Seelsorger nie gezeigt haben.
Oft ist die anonyme Bestattung auch die einfachste Lösung, um sich mit dem eigenen Tod nicht intensiver auseinandersetzen zu müssen. Es ist deshalb eine große Verantwortung für alle Bestatter*innen, Seelsorger*innen und sonstige Ratgeber*innen, Menschen das Gespräch anzubieten, und sie über die Konsequenzen ihrer Entscheidung umfassend zu informieren. Der Trend zur anonymen Bestattung mag auch finanziell begründbar sein, aber er spiegelt auch eine Verdrängung des Todes.
Die Realität an den anonymen Grabfeldern zeigt, dass viele Angehörige es schwer aushalten, keinen Ort des Gedenkens zu haben, keine Blumen oder Symbole der Beziehung ablegen zu können. Manche versuchen dann vergeblich, eine anonyme Bestattung rückgängig zu machen. Für Angehörige, die zu ihren Verstorbenen eine gute Beziehung hatten, braucht es i.d.R. einen Ort des Gedenkens, um sich an den geliebten Menschen erinnern zu können. Und nicht selten entsteht an den Gräbern eine neue Gemeinschaft derer, denen das Grab wichtig ist.
Es stimmt, dass manche Menschen das nicht brauchen. Sie haben andere Gedenkorte oder wollen die Erinnerung hinter sich lassen. Das gilt es zu respektieren. Wird dies jedoch zu einem Trend, geht eine menschliche Gedenkkultur verloren, die auch unseren Umgang im Leben prägt. Was uns verloren geht, ahnen wir, wenn wir auf Reisen interessiert und berührt Friedhöfe besuchen und fremden Toten mit ihren Namen und Lebensgeschichten ein Innehalten schenken.
Beim Namen gerufen
In Trauergruppen ist es ein schönes Ritual, für Verstorbene eine Kerze anzuzünden und ihren Namen auszusprechen. Ein tröstlicher Erinnerungsmoment.
Eine der schönsten biblischen Trauergeschichten hat ihren Höhepunkt in einer zärtlichen Namensanrede: „Maria!“ (Joh 20,16) Maria geht am Ostermorgen zum Grab Jesu in der Hoffnung, ihm als Verstorbenen noch einmal nahe zu sein. Aber sie findet ihn nicht. Ganz verstört fragt sie jemanden, den sie für den Gärtner hält. Als der Angesprochene sie beim Namen nennt, erkennt sie in ihm den gesuchten Jesus. Auch sie spricht ihn an: “Rabbuni“. Mit dem Namen geschieht zwischen ihnen ein gegenseitiges Erkennen. Was genau an diesem Ostermorgen am Grab geschieht, muss nicht weiter analysiert werden. In Trauergruppen erzählen Menschen von „Begegnungen“ am Grab, die sich jeder Erklärung widersetzen, weil sie eine unantastbare innere Wahrheit haben. Es sind Geschichten, die nicht öffentlich erzählt werden. Das Grab mit dem eingravierten Namen, einem tröstlichen Symbol und einer liebevollen Bepflanzung ist ein guter Ort, um nach den Verstorbenen zu suchen. „Wo bist du jetzt?“ Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ist es völlig normal, ihn zu suchen und innerlich in Verbindung bleiben zu wollen. Für viele ist das Grab der Ort, an dem sie die Verbindung besonders intensiv spüren.
Namens – Fürsprecherin
Die Religionen haben ein altes Wissen von der tiefen Bedeutung des Namens. Bei der Taufe wird deshalb dem Kind zugesagt, dass es von Gott beim Namen gerufen wird und sich nicht fürchten muss: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“ (Jes 43,1) Für diese Zusage am Beginn des Lebens wollen die Kirchen auch am Lebensende Anwältinnen sein. Deshalb stehen sie dem Trend zur anonymen Beisetzung kritisch gegenüber. Aber die Menschen haben sich von den Kirchen abgewandt. Das fehlende Vertrauen zu den Kirchen ist einer der Gründe für die Zunahme an anonymen Bestattungen. Trotzdem bleiben die Kirchen die stärksten Fürsprecherinnen für die im Namen ausgedrückte Einmaligkeit jedes Einzelnen. In manchen Städten haben sich kirchliche Initiativen gebildet, die sogenannte „Gedenkfeiern für Unbedachte“ abhalten. Ein wenig bekanntes aber starkes Ritual, mit dem Kirchenmitglieder, für deren Bestattung keine Angehörigen Sorge tragen, in einer Gedenkfeier namentlich verabschiedet werden.
Das Ordnungsamt meldet dazu den Gemeinden die katholischen oder evangelischen Verstorbenen, die anonym bestattet werden. Es gibt auch Bestrebungen, diesen Verstorbenen einen gemeinsamen Gedenkstein mit den Namen zu geben.
Die Corona-Zeit erschüttert uns gerade auch deshalb, weil viele Verstorbene unsichtbar bleiben und oft keine persönliche Verabschiedung möglich ist. Vielleicht lehrt uns diese Zeit neu, wie kostbar jede und jeder einzelne über den Tod hinaus mit dem eigenen Namen ist. Die Kirchen und auch die Kommunen sollten mit Engagement dafür einzustehen. Wir könnten alle dafür einstehen. Es wäre auch für die Lebenden heilsam. Der Wunsch nach öffentlichen Gedenkfeiern für Corona-Tote ist ein Ausdruck dafür, dass wir nicht mehr nur täglich auf neue Zahlen schauen wollen. Wir wollen als Individuen wahrgenommen werden. Vielleicht erwacht deshalb gerade neu das Bedürfnis, nicht namenlos von dieser Erde verschwinden zu wollen.
Dr. Angelika Daiker, Theologin, Germanistin
Von 2007 – 2017 leitete sie das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie auch konzeptionell aufgebaut hat.
Ihr besonderer Blick galt immer der Begleitung Trauernder. A. Daiker ist Autorin vieler Bücher im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung.