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„Ich studiere den Tod“ ⑯

„Perimortale Wissenschaften“ ist der neue Master-Studiengang an der Universität Regensburg: Sterben, Tod und Trauer interdisziplinär. Die Autorin Sarah Zinn ist seit Oktober 2020 immatrikulierte Studierende und berichtet in unserer Serie von ihren Erfahrungen mit diesen großen Lebensthemen.

„Ich studiere den Tod“ ⑯
Logogestaltung: Sophie Wetterich

Einfühlen, was nicht in Worte gefasst werden kann

Es kann schwierig sein, einen Zugang zur eigenen Trauer zu finden. Manchmal fehlen die richtigen Worte, um den erlebten Verlust benennen zu können. Oder der Verstand weigert sich noch, den Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren. Im Seminar „Perimortale Pädagogik“ durften wir Studierende ausprobieren, wie eine Begegnung mit der eigenen Trauer über die Arbeit mit Illustrationen der Künstlerin Lisa Aisato auf ganz individuelle Weise gelingen kann. Diese Erfahrungen helfen mir auch bei meiner Tätigkeit im Hospiz – hier wird dem nahenden Ende des eigenen Lebens auf ganz vielfältige Weise begegnet und ich nehme diesen Ansatz mit in meine Begleitungen.

Als wir den Seminarraum der Uni betreten, liegen bereits viele großformatige Ausdrucke im ganzen Raum bereit. Wir werden dazu eingeladen, die Motive in Ruhe anzuschauen und uns einige Bilder herauszusuchen, die uns besonders ansprechen. Die wichtigen Fragen dabei: was ist auf den Illustrationen zu sehen und welche Gefühle lösen die Motive in uns aus? Die rund 20 ausgewählten Werke der Künstlerin Lisa Aisato zeigen detailreiche, verspielte und farbenfrohe Momentaufnahmen aus den Leben verschiedener Menschen, zumeist sind die dargestellten Personen in höherem Alter. Wir sehen zum Beispiel ein Paar auf einer Schaukel, in inniger Umarmung verbunden – sie sind ganz bei sich, scheinen nichts von der Außenwelt mitzubekommen. Auf einem anderen Bild ist ein älterer Herr zu sehen, der lächelnd ein Kind an der Hand hält und mit ihm im Zwiegespräch zu stehen scheint. Sie teilen einen glücklichen Moment miteinander und gehen ihren Weg ein Stück gemeinsam. Es gibt aber auch nachdenklichere, stillere Motive. Eine Illustration zeigt eine Frau im Bademantel, sie steht allein im Schnee, während die dichten Flocken auf sie herunterfallen und die gerade noch sichtbaren Fußspuren, die ihr den Weg zurück zeigen würden, zu verdecken drohen. Die Bilder zeigen eine Vielzahl an möglichen Leben. Selbstbestimmt, mit großer Familie, in Begleitung von vierbeinigen Freunden, unterwegs an fernen Orten – aber auch allein, krank oder verwirrt, überfordert mit der Welt und den Anforderungen, die sie an uns stellt. Der stille Austausch mit den Motiven erlaubt es mir als Betrachterin, Brücken zu meinem eigenen Leben zu schlagen, eigene Erfahrungen oder Vorstellungen mit den Bildern zu verknüpfen und so einen Zugang zu den Emotionen zu finden, die bei mir durch die Werke geweckt werden.

Im anschließenden Austausch mit meinen Mitstudierenden merke ich schnell, dass die Illustrationen wunderbare Türöffner sein können, um eigene Erfahrungen und Empfindungen greifbar zu machen und leichter kommunizieren zu können. Wir alle möchten über des reden, was wir bei der Betrachtung „unserer“ Motive gespürt haben, welche Erinnerungen hochgekommen sind oder wie wir die dargestellten Motive interpretieren. Und da die Bilder passend zum Seminar der „Perimortalen Pädagogik“ ausgewählt wurden, entstehen spannende Gespräche darüber, was ein gutes Lebensende ausmacht und wie facettenreich die Begleitung von Menschen auf ihrer letzten Reise sein kann. Wir Studierende erleben in diesem Seminar sehr eindrücklich, wie unkompliziert ein Austausch zu komplexen Emotionen und auch ganz individuellen Lebenssituationen ­– mit dem richtigen Türöffner – gelingen kann. Eine schöne, sehr praktische Erfahrung.

Vom Seminarraum in die Anwendung

Nach meinem Hospizpraktikum im Rahmen des Studiums habe ich mich dazu entschieden, auch weiterhin ehrenamtlich im Haus zu unterstützen. Während der Begleitung eines Gastes, dessen Krankheit sehr aggressiv fortschreitet und der kaum fassen kann, wie schnell er nun im Hospiz gelandet ist, geht es immer wieder darum, wie ein Zugang zu seiner eigenen Situation hergestellt und seine neue Lebensrealität für ihn greifbar gemacht werden kann. Oft findet er nur schwer Worte dafür, wie es ihm geht und kann kaum formulieren, welche Wünsche er noch für seine Zeit im Hospiz hat. Zu meinem nächsten Besuch habe ich den Bildband „Alle Farben des Lebens“ der Künstlerin mitgenommen, die ich zuvor im Seminar kennenlernen durfte. Gemeinsam haben wir uns das Buch angeschaut – viele Seiten hat der Gast schnell überblättert. Bei einigen Motiven ist er jedoch hängen geblieben, betrachtete die Illustrationen länger und wir kamen dazu ins Gespräch. Eine Gestaltung hat ihn besonders interessiert. Darauf ist ein Paar zu sehen, welches gemeinsam einen Weg durch einen verschneiten, grauen Wald geht. Die Frau hat den Arm um den Rücken des Mannes gelegt, sie sind sich sehr nahe. Wir sehen die Menschen von hinten und können so den Weg verfolgen, den sie schon gemeinsam gegangen sind. Im Kontrast zu den kalten, laublosen Bäumen am Wegesrand blüht eine bunte Blumenwiese auf dem Pfad hinter dem Paar. Das grüne Gras sowie die weißen und rosafarbenen Blumen sprießen wie im höchsten Frühling, auch ein paar Schmetterlinge folgen der lebenspendenden Spur des Paares. Was ihm an dem Bild gefällt, frage ich. „Die beiden lassen sich nicht unterkriegen. Die Welt um sie herum ist kalt und trist – aber für sie ist es Frühling.“, meint er. Egal, was passieren würde, sie hätten einander. Und mehr würde es nicht brauchen, ergänzt er noch. Der Gast erzählt mir dann davon, wie schwer es für ihn und seine Frau seit der Diagnose sei, wie schnell sich alles verändert habe. Der Umzug in das Hospiz kam so plötzlich. „Mein Kopf ist noch gar nicht mit hier. Und vielleicht bin ich in ein paar Tagen schon gar nicht mehr da, was denn dann?“ meint er. Er mache sich Sorgen – wie das weitergehen wird, ohne ihn, für seine Frau und seinen Sohn. Dann wird er wieder still. Er blättert noch etwas im Buch, kommt aber immer wieder zum Motiv mit dem Paar auf dem Frühlingsweg zurück. Es scheint etwas in ihm angestoßen zu haben. Was es genau ist – das werde ich vielleicht nie erfahren. Aber ich bin dankbar für den Austausch, für den Einblick in dieses einzigartige Leben. Und als ich das Zimmer mit dem Buch in der Hand verlasse, freue ich mich über dieses besondere Bild, welches diese Begegnung ermöglicht hat.

 

Sarah Zinn / Autorin, Medienschaffende und Studentin der PERIMORTALEN WISSENSCHAFTEN/Universität Regensburg https://www.uni-regens­burg.de/theo­logie/moral­theo­logie/peri­mor­tale-wissen­schaften-ma/index.html

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